lausitz
Unsere Verführbarkeit
Endlich ist der „Reichsbürger“-Monolog auch im proteststarken Bautzen zu sehen
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Sterne über der Lausitz – Die Schauspielerinnen Lucie Luise Thiede und Susann Thiede (03/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

Sie flüchten aus der gefühlten Grundablehnung der Bundesrepublik in ihre paranoiden Parallelstaaten, in ihre fiktiven Reiche. Dort können sie ihre narzisstische Störung ausleben, die Geschichte negieren. Man könnte über sie schmunzeln, fänden die geschätzt 19 000 „Reichsbürger“ Deutschlands nicht eine gewisse Resonanz und Sympathie bei der viel größeren Zahl von Generalverweigerern gegenüber dem Staat. Schließlich hat einer von ihnen 2016 im bayerischen Georgensgmünd einen Polizisten erschossen.
Nach der Uraufführung in Münster 2018 kam in diesem Januar der „Reichsbürger“ endlich auf die Bühne des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters Bautzen. Intendant Lutz Hillmann wollte es möglichst bald auch in die erzkonservative Lausitz-Hauptstadt holen, aber zweimal verhinderte der Seuchen-Lockdown die Premiere. 2018 hatte Bautzen die Anti-Flüchtlingskrawalle auf der „Platte“ und ein brennendes geplantes Asylbewerberhotel hinter sich und Attacken gegen eine grüne Stadträtin, AfD-Erfolge, Querdenker und militante Impfgegner noch vor sich.
In Bautzen geht das Konzept des Autorenpaares Annalena und Konstantin Küspert und von Regisseur Stefan Wolfram auf. Ihren „Reichsbürger“ lassen sie zunächst das Publikum mit Scheinplausibilitäten und griffigen Fragen ködern wie der nach der Vorläufigkeit des Grundgesetzes. Keine Spur von einem gefährlichen Neurotiker in diesem Monolog, den Typen nimmt man erst einmal ernst. „Die Figur nicht von vornherein denunzieren“, beschreibt Wolfram seinen Ansatz. „Wir wollten nicht zeigen, was wir von Reichsbürgern halten, sondern unsere eigene Verführbarkeit vorführen!“
Als ein solcher Verführer tritt der wandlungsfähige, schlagfertige und enorm textsichere Marian Bulang rund eine Stunde der 70 Spielminuten auf. Mit dem Entertainment eines amerikanischen Missionspredigers auf bigotten Fernsehkanälen versucht er, das Publikum zu erobern. Immerhin ist er laut Textbuch ja zu einem Vortrag auf die Theaterbühne eingeladen worden. Folglich genügen ein Rednerpult, ein Sessel und ein kleiner runder Tisch als Ausstattung im Proszenium.
Zumindest bei einem Teil des Bautzener Premierenpublikums stoßen die charmant servierten Verunsicherungsfragen auf Resonanz. „Die Fakten stimmen doch: Wir haben immer noch keine Verfassung“, äußert eine Besucherin mittleren Alters und findet, dass die angesprochene Kritik an der maroden Infrastruktur, an Unordnung oder der mangelnden Integration von Migranten viele Menschen bewegt. Erst nach und nach begreift man, dass es sich bei der gefälligen Plauderei des „Selbstverwalters“, wie sich die Ignoranten der Geschichte und der real existierenden Bundesrepublik gern nennen, um geschickt gestellte Fallen handelt.
Die es angeht, kämen zwar wegen der 2G+-Regel und auch sonst nicht ins Theater, bemerkte ein Jugendlicher. Aber dass ein solcher Appetitmacher für den städtischen Diskurs unbedingt nach Bautzen gehört, fanden nicht nur junge Linksliberale im Premierenpublikum. Das tendierte ungeachtet der Verführungskünste des glänzend aufgelegten Protagonisten überwiegend kritisch, ließ sich aber willig und teils amüsiert zum Mitmachen animieren. Beim Frage-Antwort-Spiel zur Verfassung einer echten Verfassung zum Beispiel. Es sparte aber auch nicht mit Hohngelächter, als der Reichsselbstverwalter dazu einlud, Geld bei ihm anzulegen. Die GemeinwohlKasse Peter Fitzeks, des „Königs von Deutschland“ aus Wittenberg, lässt grüßen.
Mit seinem Missionierungserfolg scheint dessen Bautzener Bühnendouble im Verlauf immer weniger zufrieden. Der „Selbstverwalter“ wird zunehmend nervös, zieht ein gelbes Band um sein mit der Waffe zu verteidigendes „Reich“, beschimpft sein verstocktes Publikum, an dem er sich seit einer Stunde vergeblich abarbeitet, bedroht es gar mit einer Pistole. Es wird laut, wohlinszeniert will Intendant Hillmann den Gastreferenten von der Bühne jagen.
Diese dramaturgisch geschickt herbeigeführte Selbstdemaskierung des paranoiden Agitproppers verfehlt ihre Wirkung auf die Besucher nicht. Es sei bestürzend, wie viele dennoch an den Schwachsinn glaubten, und man wisse jetzt besser, welchen Versuchern man nicht erliegen dürfte, hieß es anschließend im Foyer. Man darf neugierig bleiben, wie die polarisierte Bautzener Stadtgesellschaft auf kommende Repertoirevorstellungen reagiert. //