Theater der Zeit

Auftritt

Staatsschauspiel Dresden: Stadtplan mit lebendem Gedächtnis

„Der Komet“ nach dem Buch von Durs Grünbein in einer Bühnenfassung von Tilmann Köhler, Uta Girod und dem Spielensemble – Regie Tilmann Köhler, Bühne Karoly Risz, Kostüme Susanne Uhl, Choreografie Gal Fefferman, Live-Musik Matthias Krieg

von Thomas Irmer

Assoziationen: Sachsen Theaterkritiken Durs Grünbein Tilmann Köhler Staatsschauspiel Dresden

Das Ensemble von „Der Komet“ nach dem Buch von Durs Grünbein in der Regie von Tilmann Köhler, Bühne Karoly Risz, Kostüme Susanne Uhl. Foto Sebastian Hoppe
Das Ensemble von „Der Komet“ nach dem Buch von Durs Grünbein in der Regie von Tilmann Köhler, Bühne Karoly Risz, Kostüme Susanne UhlFoto: Sebastian Hoppe

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Am Anfang stehen die sieben Schauspieler:innen als Gruppe eng zusammen und scheinen sich mit synchronen Bewegungen von Armen und Oberkörpern so in die Höhe zu drängen, dass beinahe der Effekt eines Schwebezustands auszumachen ist. Sie befinden sich am hinteren Rand eines leicht schräg gestellten Stadtplans von Dresden, auf dem der Verlauf der Elbe durch die Stadt deutlich zu erkennen ist. Alles andere wie Straßen und Plätze jedoch eher schemenhaft bleibt.

Auch das 2023 erschienene Buch zeigt auf den Vorsatz- und Nachsatzseiten eine Karte Dresdens, Meinholds Stadtplan aus den 1930er-Jahren mit der Topografie des noch unzerstörten Stadtzentrums. Mit seiner Hilfe kann man die Wege und Orte der Dora Wachtel imaginieren, von denen Durs Grünbein aus dem Leben seiner Großmutter als junge Frau und Mutter in den Jahren 1936 bis zum Tag nach dem Feuersturm des 13. Februar 1945 in „Der Komet“ erzählt – in einer Verbindung von biografischem Bericht und kulturhistorisch erkundeter Alltagsgeschichte mit den Kinofilmen, Cafés oder anderen Vergnügungen jener Zeit, in die Grünbein eindringlich präzise auch die nationalsozialistische Atmosphäre und Prägung Dresdens einbringt.

Für die Bühne gibt es aber kaum etwas zu „dramatisieren“, und Tilmann Köhler wählt so folgerichtig wie naheliegend die heute im Theater nicht gerade selten zu erlebende epische Theaterform des kollektiven Erzählens, in der für Momente eine Figur aufscheinen kann, um dann schnell wieder im mehrstimmigen Strom der Erzählung zu verschwinden. Das hat den Vorteil, gerade bei einem solchen Buch, viel Kontext mitzuteilen, und den Nachteil einer minimalistischen Gestaltungsblässe.

Die choreografischen Formungen von Gal Fefferman wirken dem etwas entgegen, und das Ensemble insgesamt beherrscht ausgezeichnet das schnelle Wechselspiel zwischen der Erzählung von Doras liebloser Kindheit und Jugend in einem schlesischen Dorf und zum Beispiel der etwas neckischen Verwandlung der männlichen Schauspieler in meckernd ihre Hüterin kosende Ziegen. Nach einer reichlichen halben Stunde scheint diese Art des Erzählens auf der Bühne in Gleichförmigkeit erschöpft – aber es geschieht das kleine Wunder, dass es mit schärferen Konturen im Folgenden plötzlich sehr viel lebendiger wirken wird.

Über dem Stadtplan schwebt nun eine Spiegelwand, die ihn verdoppelt und gleichsam verräumlicht, und mit Dora und ihrer Freundin Gertrud entstehen Figuren, die nicht nur wie kurz angerissen wirken – exzellent Henriette Hölzel und Anna-Katharina Muck als junge Frauen voll aufstrebender Lebenslust in den Jahren vor dem Krieg, die der Autor als die „goldene Zeit“ seiner Großmutter bezeichnet, um auch darauf aufmerksam zu machen, vor welchem Hintergrund sich diese ereignet. Nazi-Kult, Militarisierung, eine verängstigte jüdische Nachbarin, der die Wohnung verwüstet wird, daneben Vergnügen auf der Vogelwiese, einer Art Dresdner Prater, und das erste Mutterglück Doras, die als noch Minderjährige ihrem Oskar, dem Fleischergesellen im weithin bekannten, später sogar auch literarisch berühmten Dresdner Schlachthof, in die verheißungsvolle Stadt gefolgt ist. Einige Tafeln, aus denen der Bühnenstadtplan von Karoly Risz zusammengesetzt ist, werden entfernt, sind nacheinander das dunkle Wasser zum Schwimmen in den Moritzburger Teichen und offenbar auch schon Verweise auf die Luftschutzkeller unter der Stadt für die Erwartung der kommenden Katastrophe, um die das Publikum im Kleinen Haus des Staatsschauspiels auch ohne schon beendete Lektüre von Grünbeins Buch weiß.

Für diesen letzten Teil wird der Rückwandspiegel so gestellt, dass sich nun alle Zuschauer:innen darin sehen, nicht unbedingt als Einzelne, sondern vor allem als Gemeinschaft, die diese Erzählung von Dora, die mit Scharlach in ein Krankenhaus eingeliefert von ihren beiden Töchtern getrennt wurde, vernimmt. Die sieben Schauspieler:innen stehen nun breit verteilt vorn am Bühnenrand, halten bunte Karnevalskostüme in den Händen – der 13. Februar war ein Faschingsdienstag – und schildern die Bombennacht. Über der Bühne hängt dunkel und prall ein schwarzseidener Ballon, im Publikum ist nicht einmal mehr das sachte Rascheln einer Bluse zu vernehmen, geschweige denn ein Hüsteln zu hören. Der Komet.

Tilmann Köhler ist mit seinem Ensemble – Marin Blülle, Henriette Hölzel, Sven Hönig, Christine Hoppe, Anna-Katharina Muck, Karina Plachetka und Matthias Reichwald – nach einem vielleicht schwierigen Anlauf dann doch etwas mit dieser Form gelungen, das man eindrucksvoll, am Ende sogar in der Wirkung beklemmend und erschütternd nennen darf. Grünbeins Buch, schon mit seinem Erscheinen eine so noch nicht erzählte Untersuchung des bis heute vielschichtigen Mythos vom Untergang des alten Dresdens, ist nun auch im Gedächtnis des Theaters. Am Ort.

Erschienen am 29.1.2025

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