Theater der Zeit

Auftritt

Theater an der Wien: Ein menschliches Wunderland

„Alice in Wonderland“ von Unsuk Chin im MusikTheater an der Wien, Wien – Inszenierung Elisabeth Stöppler, Musikalische Leitung Stephan Zilias, Bühne Valentin Köhler, Kostüme Su Sigmund

von Alexander Keuk

Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Musiktheater Elisabeth Stöppler Theater an der Wien

„Alice in Wonderland“ von Unsuk Chin im MusikTheater an der Wien, Regie Elisabeth Stöppler. Foto Matthias Baus
„Alice in Wonderland“ von Unsuk Chin im MusikTheater an der Wien, Regie Elisabeth StöpplerFoto: Matthias Baus

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Gerade erst wurde das MusikTheater an der Wien in Athen bei den International Opera Awards für das „Beste Opernhaus“ ausgezeichnet. Damit wurde nicht nur die Wiedereröffnung des Traditionshauses nach der umfassenden Renovierung gewürdigt, sondern auch das innovative Profil, das Intendant Stefan Herheim mit seinem Team kontinuierlich pflegt. Dass der Preis keinesfalls zum Ausruhen einlädt, zeigte die neue Produktion „Alice im Wonderland“ von Unsuk Chin, die in Kooperation mit dem Festival Wien Modern alle Kräfte des Theater forderte.

Denn von den vielen Adaptionen, die einem mehr oder weniger schon begegnet sind, ist dieses Musiktheater eine der herausforderndsten, schillerndsten aber auch kontroversen Umsetzungen, was aber die Vorlage regelrecht einfordert. Und obwohl Weltliteratur, bekennen viele, die „Alice im Wunderland“ zu kennen glauben, das Originalbuch von Lewis Carroll niemals gelesen zu haben, so auch der Autor dieser Zeilen.

Dabei gelingt der Zugang der Geschichte und auch zur Oper rasch, denn Alice im Wunderland touchiert zwischen Märchen, Gedicht, surrealer Erzählung und Traumnovelle viele Genres und stößt das Tor zum Land der Fantasie weit auf. Die aus Korea stammende Komponistin Unsuk Chin schöpft aus dem Vollen der Vorlage. Sie schafft es tatsächlich, ein über zweieinhalb Stunden packendes Musiktheater zu komponieren, das einen atemlos und nachdenklich, aber ebenso auch unterhalten und mit krassen Klängen geflutet aus dem Opernhaus wanken lässt.

Die Komplexität ist ja indes dreifach, denn schon bei Carroll widerstrebt vieles im Buch einer Logik oder Erklärung. Unsuk Chin wiederum hat sich in der Musik für einen Stilpluralismus entschieden, der weitere Ebenen eröffnet, aber ebenso zum Beispiel in einem Escher-Raum mit Lust herumirrt oder Szene und Buch auch mal konterkariert. Dabei wandelt sich ihre eigene Musiksprache im Laufe der Oper von sauber strukturierten Szenen bis hin zur Dekonstruktion und Auflösung der Form – die Fasslichkeit verlässt sie aber nie ganz. Schließlich fügt Elisabeth Stöppler in der Regie ihre eigenen Ideen vom Ganzen hinzu, was überraschenderweise hier nicht zu einem völligen Durcheinander führt, sondern die Themen von Traum, Parallelwelt und letztlich auch Identität behutsam und strukturiert unterstreicht.

Ihr Ansatz ist dabei Mensch und Menschlichkeit in allen Facetten, und dazu gehört auch Entmenschlichung oder Versprachlichung, die Chin ebenfalls in der Partitur anlegt, wenn etwa die Raupe über die Bassklarinette (hervorragendes Bühnen-Solo von Teresa Doblinger) ‚spricht‘. Diese beruhigten, in sich geschlossenen Szenen erholen Auge und Ohr auch vom lustvoll ausgebreiteten Chaos, das Alice nach ihrem Traumsturz in den Kaninchenbau vorfindet. Zahlen wandeln sich da ebenso in ihrer Bedeutung wie die Zeit, die den Hutmacher in fortwährende Teezeremonien zwingt. Humor ist von Stöppler oft an die Leine genommen und doppelbödig.

Da Su Sigmund (Kostüme) die Rollen nah an tatsächlichen Menschen belässt und keine Tier- oder Maskenstory erzählt, sieht man eben bekannte Regungen und Emotionen, die oft unvermittelt auftauchen, verschwinden und sich ein (Alb-)Traum in Horror oder surreale Welten verwandeln, dabei in ihrer Plötzlichkeit und Dynamik aber näher an der Realität verortet sind, als man es als Wunderland-Zuschauer vielleicht gern hätte. Valentin Köhler hat dazu eine klar strukturierte Bühne geschaffen, die quasi die viel genutzte und hier auch sinnhaft eingesetzte Drehbühne in Text- und Lichtkreise spiralartig in die Luft fortsetzt, aber letztlich im wenig dekorierten Bühnen-Arbeitsgarten dem Auge Entspannung gönnt, damit die Fantasie über die Figuren und Töne ihr Futter bekommt.

Und das geschieht überreichlich in diesem Stück, denn Chin folgt dem Buch recht vollständig – Alice ist dabei nicht nur Betrachterin der Wunderwelten, sondern auch vielfach involviert, und sie lernt die Figuren kennen, um dabei etwas über sich selbst herauszufinden. Am stärksten wirkt in Stöpplers Deutung noch die Unterstreichung von Kunst und Kreativität, die alles darf und lustvoll zwischen Spiel und Ernst changiert – was auch ein Hauptmerkmal der Musik von Chin ist. Ihre kompositorischen Kniffe, Zitate, Formwelten und Klangsinnlichkeiten hier zu behandeln, würde einen eigenen Text erfordern. Stephan Zilias (GMD an der Staatsoper Hannover) hielt die Fäden in der Premiere am Pult des dank einer riesenhaften Schlagzeugbatterie aus dem Graben platzenden ORF Radio-Symphonieorchesters mit großer Spannung und zielgerichteter Entladung zusammen.

Für die hoch anspruchsvollen Rollen, die zumeist mehrere Figuren in einer Person umfassen und daher große Spielpräsenz erfordern, hat sich hier ein durchweg hervorragendes Sängerensemble gefunden, das Chins vokale Klangideen (beinahe möchte man sagen Stimmkapriolen) optimal umsetzt. Allen voran brilliert die junge Sopranistin Álfheiður Erla Guðmundsdóttir mit Ausdauer und auch am Ende noch starker stimmlicher Präsenz als Alice, aber man staunt auch über die deutliche Ausgestaltung etwa der Rollen der Herzogin (Helena Rasker), der Koloratur-Grinsekatze (Juliana Zara) oder der Herz-Königin (Mandy Fredrich), wenn man nach einigen Sekunden ihrer Tableaus mitbekommt, dass die Schwierigkeit dieser Passagen doch jenseits der üblichen Norm auch in zeitgenössischer Musik ist. Das erfordert Herzblut und viele Proben und das hier erzielte Ergebnis ist atemberaubend. Das betrifft auch die männlichen Rollen mit Andrew Watts’ nuancenreichem Counter (Weißes Kaninchen), dem flexiblen Tenor von Marcel Beekman (Maus) oder dem raumgreifenden Bariton von Ben McAteer (Hutmacher). Der Arnold Schönberg Chor glänzt im organisierten Chaos des Krocketspiels ebenso wie als fleißige Minion-Truppe im Maus-Garten und der Kinderchor Gumpoldskirchener Spatzen sorgt für einen cozy moment im Lied mit der Falschen Suppenschildkröte (Henry Neill).

Das Resümee ist eine Frage: Warum wurde dieses Meisterwerk nicht längst schon von anderen Häusern gespielt? Natürlich muss man einmal tief Luft holen, bevor man die Herausforderungen von Chins Partitur angeht, das betrifft alle Beteiligten, die sich in dieser Produktion am Theater an der Wien hervorragend für das Werk einsetzen. Doch es ist tatsächlich eine Oper, die alle Sinne anspricht und die Bühne wieder als fantastischen Raum für Kreativität, für Abgründiges ebenso wie für Phantastisches begreift und als solches zeigt sich „Alice in Wonderland“ als empfänglich für künftige Inszenierungen und Deutungen. Die faszinierende Reise des Mädchens, das zeigte auch das offene Finale der Oper, darf also weitergehen.

Erschienen am 20.11.2025

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