Theater der Zeit

Archiv

Der Leitungsspitze die Spitze nehmen

oder: Vorschlag zur Beschaffung einer Waschmaschine – Theater der Zeit als Archiv alternativer Realitäten

von Anna Volkland

Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)

Assoziationen: Berlin Akteure Dossier: TdZ-Geschichte

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Um davon zu erzählen, wie interessant es ist, alte Theaterzeitschriften zu untersuchen – das heißt in meinem Fall: etwas Konkretes in ihnen zu suchen, Spuren von Institutionskritik nämlich –, frage ich: Woher wissen wir, unter welchen Umständen heute Theater gemacht wird? Lassen sich „die Verhältnisse“, lässt sich Realität – zum Beispiel die des Theaterschaffens – einfach so beobachten?

Man muss nicht Theaterwissenschaft studiert haben, um zu wissen, dass es objektive, „neutrale“ Beobachtung – ob von Rea­lität oder Kunst – nicht geben kann. Immer haben wir Beobach­terinnen und Beobachter eine spezifische Perspektive und ein spezifisches Interesse – und eine Vorstellung dessen, was „normal“ ist, was determinierende Umstände und Strukturen sind.

Natürlich könnten wir fragen: Sind sechs Wochen Probenzeit für eine Inszenierung tatsächlich normal oder eher normierend? Muss das gegenseitige Duzen auf Proben dazugehören – und wem nützt es? Ist der Umstand, dass Regisseurinnen und Regisseure in einem höheren Maße als Schauspielerinnen und Schauspieler für das Ergebnis eines Inszenierungsprozesses verantwortlich gemacht werden, selbstverständlich? Es sind endlose Variationen solcher Normalitätsbefragungen möglich – die ungefiltert zu starker Desorientierung führen können. Hinterfragt wird deshalb meistens, was (einige) unmittelbar einschränkt, zum Beispiel: Warum stehen da hauptsächlich weiße Menschen auf der Bühne? Warum arbeiten in vielen Theatern Menschen für kein oder viel zu wenig Geld (mindestens einer oder eine aber doch für ziemlich viel)? Warum wird mit Blick auf Schauspielerinnen – nie aber auf Schauspieler – geglaubt, Altern sei „ein professionelles Problem“? Derartige „Einschränkungen“ fallen aber selten sofort auf, niemals allen gleichzeitig – und manchen nie. Die Vorstellungen darüber, was als „normal“ gilt, sind denkbar stabil.

Eine interessante Interventionsmöglichkeit ins eigene Normalitätsverständnis bietet der historische Vergleich. Dabei soll hier nicht über Genealogie als kritische Forschungsmethode referiert, sondern anhand von fast zufälligen Fundstücken aus dem zu Unrecht kaum noch beachteten, archivarischen „Altpapier“ gezeigt werden, wie diese „Intervention“ aussehen, wie Gegenwart befremdet werden kann. Neben dem heute bekannten patriarchats- und machtkritischen Blick auf Theaterschaffen und Produktionsprozesse, ihre Umstände und Ergebnisse kann das Durchforsten auch nur wenige Jahrzehnte alter Theaterzeitschriften zusätzliche Momente der Hinterfragung des Status quo bescheren: Was störte damals? Was war neu und diskussionswürdig? Welche Krisen des Theaters wurden bereits beschworen? Und: Welche Lösungsideen entwickelt?

Die 1946 in Berlin gegründete Zeitschrift Theater der Zeit ist unter diesen Aspekten im Zeitraum bis Anfang der 1990er Jahre besonders interessant, weil sie besonders starke Realitätsbefremdungseffekte provozieren kann – so anders als heute waren die Ideen vom Selbstverständlichen und Wünschenswerten. Ein weiteres Vergleichsmoment bietet der Blick auf die 1960 – Gerüchten nach als Reaktion auf TdZ – gegründete westdeutsche Theaterzeitschrift Theater heute. Während dort – als Produkt des privaten Friedrich Verlags – Kritik und Debatten als wichtiges Instrument einer aufbruchsbereiten demokratischen (Theater-)Kultur begriffen und ausgiebig geübt wurden, agierte die ab 1968 vom vor ­allem staatlich finanzierten Verband der Theaterschaffenden der DDR herausgegebene Zeitschrift Theater der Zeit im Spannungsverhältnis zwischen offizieller Partei- beziehungsweise Kultur­politik, den Ansprüchen der Theaterschaffenden sowie den materiellen und informationstechnischen Möglichkeiten innerhalb eines mal kleineren, mal größeren, immer aber sozialistisch-­progressiv definierten Spielraums.

Vor allem in den hier im Fokus stehenden späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren hatten die west- und die ostdeutsche Thea­terzeitschrift gemeinsam, dass sie sich nicht als ausschließlich an Theaterliebhaber gerichtetes Unterhaltungsmedium verstanden, sondern als professionelle Begleitung der praktischen zeitgenössischen Theaterarbeit. Dazu gehörte auch, die Arbeit und Diskurse im jeweils anderen Land aufmerksam wahrzunehmen sowie ausländische Theaterentwicklungen zu verfolgen. (Bei aller – besonders in Theater der Zeit vertretenen – Internationalität kannten beide allerdings noch keine migrantischen Stimmen im eigenen Land.) Beide Zeitschriften dürfen als wichtige Organe der Selbstverständigung der Theaterschaffenden und des Propagierens neuer Ideen angesehen werden – häufiger als heute etwa durch (von den Theatermachern – und seltener Theatermacherinnen – selbst verfasste) Berichte über neue Produktionsweisen und Probenverfahren.

Viel wäre natürlich über die Unterschiede zwischen beiden Zeitschriften zu sagen. Im Folgenden stelle ich nur wenige Beispiele vor: für das, was mir auffiel. Es besteht kein Anspruch auf Gültigkeit für größere Zeiträume, vor allem versuche ich, auf Bewertung und Deutung zu verzichten, die nicht ohne komplexere Erklärungen zu politisch-ideologischen, aber auch produktionspraktischen Kontexten auskommen könnten.

Wer schreibt oder spricht? Wer ist wichtig?

In Theater der Zeit schreiben damals häufig Dramaturginnen und Dramaturgen sowie wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an Theatern oder Hochschulen angestellt sind. (Das wird ersichtlich, weil deren Berufspositionen – anders als in Theater heute – mitgenannt werden.) Immer wieder gibt es Texte von oder Gespräche mit Schauspielerinnen und Schauspielern beziehungsweise Porträts über sie; Regisseure oder Regisseurinnen (die allerdings konsequent „Regisseur“ genannt werden und sich auch selbst so bezeichnen) kommen dagegen seltener zu Wort. Sogar in den oft sehr ausführlichen Inszenierungsbesprechungen, die eher im Tonfall eines kollegialen Ratschlags an eine ­Gruppe formuliert werden und die auf die Lernfähigkeit der Beteiligten sowie weitere Entwicklungsmöglichkeiten abzielen, wird die Regieposition kaum erwähnt – der Autor beziehungsweise die Autorin immer, ebenso die Darstellerinnen und Darsteller, auch die Bühnenbildnerinnen und Bühnenbildner. Es schreiben in TdZ überwiegend Männer, aber (im Gegensatz zu TH!) auch Frauen – über deren vergleichsweise neue gesellschaftliche Position als selbstverständlich auch noch Lohn­arbeitende dabei höchstens in Kommentaren von Zuschauerinnen zu konkreten Inszenierungen neuer Stücktexte reflektiert wird. (Im Übrigen werden in TdZ auch theatersoziologische Studien zur ­Pu­blikumsforschung als Beilagen veröffentlicht.)

In Theater heute wiederum werden die jungen Regisseure ­deutlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, sie sind die streitlustigen und nachdenklichen, charismatischen und befreienden Prota­gonisten eines neuen politischen und künstlerisch ­experi­men­tier- freudigen Theaters; es wird öffentlich gestritten, gern auch mit Intendanten. Regisseurinnen kommen nicht vor, allerdings berichtet man(n) im August 1974 über „Frauen, die am Theater arbeiten“ und lässt dabei eine von drei (!) in der BRD ausgemachten Regisseurinnen zu Wort kommen (die aus der DDR übergesiedelte, frühere Berliner-Ensemble-Schauspielerin Angelika Hurwicz) sowie eine angesichts der unfreien Zustände an den Theatern fast verzweifelnde Regie­assistentin (Vera Sturm) und eine mit einem „Frauen-Stück“ über die „Unmöglichkeit der Emanzipation“ debütierende promovierte Dramaturgin (Ursula Krechel mit „Erika“; „Ich war darauf gefaßt, schlecht behandelt zu werden“, der erste Satz ihrer Probenreflexion).

Was wurde wie verhandelt?

Wichtige Themen der DDR-Zeitschrift sind wiederkehrend etwa die Weiterentwicklung der „neuen sozialistischen Dramatik“, die Ausbildung der Theaterschaffenden (aller Berufsgruppen) sowie Fragen „sozialistischer Leitungswissenschaft“ und demokra­tischer Organisierung im Sinne der Selbsttätigkeit der Theatermitarbeiterinnen und -mitarbeiter („Künstler als Subjekte“). Aber auch Ideen für eine ökonomisch effiziente Produktion, die ohne Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft bei Einhaltung einer Fünf-Tage-Woche durch gute Planung erreicht werden soll, werden ­diskutiert. Als zeitsparendes Beispiel cleverer „sozialistischer ­Gemeinschaftsarbeit“ wird etwa eine 1967 in Halle realisierte Produktion zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution (Textbearbeitung Heiner Müller) vorgestellt: Indem zwei Regisseure parallel je eine Hälfte des Textes mit je einer Hälfte des Ensembles probten, konnte in nur drei Wochen eine eineinhalbstündige neunteilige Revue auf die Beine gestellt werden; vorgerechnet wurde, dass man so statt der üblichen vier Wochen mit einem Regisseur ins­gesamt sogar sechs Wochen habe proben können (siehe TdZ 1968/19). Aus der Fähigkeit des Rechnenkönnens resultiert eine Qualitätssteigerung der Inszenierungsarbeit, die mit dem Prädikat „geistige Durchdringung“ ausdrücklich gelobt wird. Ausruhen auf Erfolgen ist allerdings nicht vorgesehen, beständig gemahnt man sich zur weiteren Verbes­serung; wie die sozialistische ­Gesamtgesellschaft sollen auch die Theaterschaffenden mittels kluger Theorie-Praxis-Dialektik einer gerechteren Zukunft ent­gegenstreben. Im Oktober 1969 wird etwa zur „Kunst sozialistischer Menschenführung“ im Theater erklärt: „Die nächste Zeit wird eine Periode intensiven Lernens sein müssen, eines Lernens nicht nur aus Büchern der Philosophie, ­Führungswissenschaft, Organisationswissenschaft, Kybernetik, ­Pädagogik und Psycho­logie, sondern zugleich eines Studiums der fortgeschrittensten ­Erfahrungen der künstlerischen Praxis.“

Die Reflexion der künstlerischen Praxis ist dabei nicht etwa auf die unmittelbaren Fragen des Schauspielens oder der ­Themenauswahl, Stückkonzeption und -interpretation beschränkt, sondern es werden – anders als in Theater heute – immer wieder auch Fragen aller Theatermitarbeiterinnen und -mitarbeiter, etwa der Maskenbildnerinnen und Maskenbildner, und die diversen Einflussfaktoren auf das „Gesamtprodukt Theater“ (wie Beleuchtung oder Theaterneubauprojekte) berücksichtigt.

Die in der BRD ab 1968 heiß diskutierten Probleme um ­Autoritätshörigkeit, fehlende Diskussions- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Theatern wurden in Theater der Zeit hin­gegen zum Anlass genommen, auf „die gesellschaftliche Über­legenheit unseres sozialistischen Theatersystems“ zu verweisen (siehe TdZ 1968/10). „Das berechtigte Unbehagen zahlreicher westdeutscher Theaterleute über das Theatersystem des Bonner Staats“, heißt es im TdZ-Editorial, habe sich bei den west­deutschen Kollegen „in einem prinzipiellen, scharf pointierten Artikel“ ent­laden, der unter dem Titel „Über den autoritären Geist des deutschen Theaters“ im Aprilheft 1968 in Theater heute veröffentlicht worden war. Die ­Thesen und Forderungen der jungen Schauspieler Barbara Sichtermann und Jens Johler werden in Theater der Zeit genau wiedergegeben, um dann zu erklären: „Das Prinzip der demokratischen Mitbestimmung in unseren Ensembles, unser Ensemblebegriff überhaupt; die verschiedensten Möglichkeiten, die gesellschaftliche Organisationen, die Gewerkschaft und das von ihr geschaffene ­Instrument, der Künstlerisch-Ökonomische Rat, den Theaterschaffenden bieten, um ihre Rechte und Pflichten wahrzunehmen, das Prinzip der Gemeinschaftsarbeit, der kollektiven Beratung, die selbstverständlich den Leitungen nicht die Verantwortung abnimmt – all dies sind Errungenschaften unseres sozialistischen Systems, deren man sich häufig erst dann wieder bewußt wird, wenn man solch einen Beitrag wie den oben erwähnten liest.“

In der Deutschen Demokratischen Republik hat man sich derweil mit anderen Problemen abzugeben – allerdings werden auch diese gelöst. So wird im selben Heft berichtet, warum sich das ­Theater Brandenburg eine eigene Waschmaschine anzuschaffen gedachte: „Ein weiteres Beispiel, das zweifellos positive Auswirkungen haben wird, ist der Vorschlag zur Beschaffung einer Waschmaschine, um die körperliche Arbeit der Ankleider zu erleichtern. Dadurch wird erreicht, daß eine Planstelle der Ankleider eingespart werden kann und diese der künstlerischen Produktion zur Verfügung gestellt werden kann; daß eine termingerechte Bereitstellung der Leibwäsche für die Vorstellungen erfolgen kann; daß die körperliche Arbeit der Kollegen Ankleider erleichtert werden kann; daß durch Übernahme von Fremdaufträgen (gedacht ist dabei an ‚Junggesellen‘ des Theaters) außerdem noch ein ökonomischer Nutzen erzielt werden kann.“

Der Autor erklärt außerdem, wie weiterer Fortschritt in den Theatern organisiert werden solle: „Der bisherigen Tendenz zu einer kleinen ‚Leitungsspitze‘ soll die ‚Spitze‘ genommen werden und auf eine horizontale Leitungsebene übergegangen werden.“

Was ist aus all dem zu lernen? Eine Menge. Die Aufgaben von gestern sind – trotz zum Teil gänzlich veränderter Vorzeichen – immer noch die Fragen von heute. Und vergessen wir, nur weil es jetzt Waschmaschinen und eine Reihe zusätzlicher Theater­sorgen gibt, auch nicht die Ankleiderinnen und Ankleider! //

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