Auftritt
Wiener Festwochen: Ein Blick in den Abgrund
„Lulu“ von Alban Berg nach Frank Wedekind – Regie, Choreografie & Kostüme Marlene Monteiro Freitas, Musikalische Leitung Maxime Pascal
von Susanne Dressler
Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Musiktheater Marlene Monteiro Freitas Alban Berg Wiener Festwochen

Nelli, Eva, Mignon – Lulu nennt sie nur ihr vermeintlicher Vater Schigolch. Sie ist das, was man in ihr sehen will, hauptsächlich aber ist sie eine Projektionsfläche für Männerfantasien. Mit 12 Jahren wird das Kind von dem Journalisten und Verleger Dr. Schön von der Straße aufgelesen und erzogen, später taumelt das junge Mädchen von einer arrangierten Ehe in die nächste, von einer Affäre zur anderen. Nicht nur sie bleibt emotional auf der Strecke, sondern auch die Männer. Diese im wahrsten Sinne, denn sie sterben: An Herzinfarkt, durch Selbstmord und zu guter Letzt durch Lulu selbst, die mit einem Schuss die toxische Beziehung zu Dr. Schön beendet. Schwere Kindheit, daher beziehungsunfähig würde man heute küchenpsychologisch schnell urteilen. Ob nun männermordende Femme Fatale oder Opfer sexuellen Missbrauchs – die Aufführung der Oper „Lulu“ von Alban Berg im Rahmen der Wiener Festwochen legt sich mit keiner dieser Beurteilungen fest. Die Zuschauer:innen sollen und dürfen selbst entscheiden, was sie sehen wollen: Verführerin, Opfer, Möderin?
Ist die Bühne das Oberdeck eines großen Schiffes, der Titanic? Ganz oben spielt die Musik, nämlich das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, ein Deck darunter ist viel los. Regisseurin Marlene Monteiro Freitas ist Choreografin und kommt aus der Performance-Welt. Aufmerksamen Besucher:innen der Wiener Festwochen und der Performanceszene ist die kapverdische Tänzerin wohl bekannt. Logischerweise inszeniert Freitas keine Oper ohne ihr vertrautes Personal. Tänzer:innen, Performer:innen und eine Akrobatin bevölkern neben den Sänger:innen die Szenerie. Langeweile kommt beim Publikum nicht auf, es hat gut zu tun, sich zu orientieren, wer was darstellt, zu wem gehört und warum das und jenes passieren kann oder soll. Damit es noch ein wenig komplizierter wird, sind alle – einschließlich Dirigenten gleich gekleidet – schwarzer grober Anzug, weißes Hemd, blitzblaue Turnschuhe. Da marschieren Paare oder Dreiergruppen im Gleichklang dahin, verbiegen und verdrehen sich Körper, verschwinden unter weißen Laken aus denen blaue Handschuhe ragen, es werden Tische und Sessel gerückt und mit Telefonapparaten gespielt.
Wie es sich allerdings für eine Opernaufführung gehört, stehen trotzdem die Sänger:innen im Vordergrund und zwar zwei im Besonderen.
Die deutsche Sopranistin Vera-Lotte Boecker als Lulu ist umwerfend. Mit kleinen verführerischen Blicken manipuliert sie gnaden- und emotionslos ihr nächstes Männeropfer, wenige Minuten danach sitzt sie zerbrechlich auf der Bank und hofft auf Erlösung oder turnt talentiert an der Stange. Sie sticht förmlich mit ihrem strahlenden Sopran in die schwierigen Tonnester, die Alban Berg aufbaute (der oft zu scharfe Klang kann wohl auch von den Verstärkern liegen, die alle Sänger:innen tragen). Wie in so vielen Rollen schon bewiesen, zwingt Boecker mit ihrer äußerst gelenkigen Stimme seelische Abgründe auszuloten, alle in ihrem Bann. Bühnenroutinier Bo Skovus (Dr. Schön) ist ein kongenialer Partner. Beide sind bereits in einigen Produktionen Seite an Seite gestanden. Der dänische Bariton hat zu Beginn seiner Karriere als Don Giovanni in Wien Jubelstürme ausgelöst und über Jahrzehnte kontinuierlich Leistung geboten. Die Stimme ist vielleicht eine Spur rauer, aber nicht weniger groß oder wendig geworden. Boecker und Skovus: Da kann niemand vom anderen lassen und nur der Tod diese Beziehung auflösen.
Alban Bergs Oper ist ein Fragment. Zwei Akte lang darf man sich an der unglaublich dichten Tonwelt des Komponisten – mit vollem Einsatz vom ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Maxime Pascal interpretiert – erfreuen. Den atonalen Notenwellen kann man sich in deren Intensität unmöglich entziehen, gut vorstellbar, wie das Publikum bei der Uraufführung 1937 die Luft wegblieb. Nach der Pause wird es musikalisch lahmer und das Spiel auf der Bühne schwieriger durchschaubar. . Nach dem Mord an Dr. Schön flieht Lulu mit Hilfe ihrer lesbischen Geliebten Gräfin Geschwitz: Erfreulicherweise hat diese Rolle die große schwedische Sängerin Anne Sofie von Otter übernommen, die allerdings darstellerisch und auch stimmlich in dem Inszenierungsgetümmel etwas untergeht. Bassbartion Kurt Rydl kann da als Schigloch trotz fortgeschrittenen Alters erstaunlich groß mit seiner mächtigen Stimme punkten. Der litauische Tenor Edgaras Montvidas, in der Rolle des Alwa, kämpft mehr um Bühnenpräsenz, ist aber mit einem eleganten Timbre ausgestattet. Alle anderen des Teams liefern souveräne Leistung ab. Eine tiefgebeugte männliche Gestalt, an seinem Arm wie eine Puppe das Mädchen hängend, sind die letzten Bilder, mit denen das Publikum, begleitet von der die Lulu-Suite, nach Hause geschickt wird. Verstörung hat sich breit gemacht: das Licht geht aus. Zögerlich setzt der Applaus ein, aber speziell die Sänger:innen werden heftig beklatscht.
Erschienen am 6.6.2023