Theater der Zeit

Festival

Reiseleiter in die eigene Erinnerung?

Überlegungen zu Inklusion, Barrieren und Schwellen anhand des Figurentheaterfestivals wunder

Unter dem neuen Namen „wunder.“ fand vom 17.10. bis 1.11.2020 das Interna-tionale Figurentheaterfestival in München statt. So kurz vor dem abermaligen pandemiebedingten Lockdown der Kulturszene mussten die Macherinnen einige organisatorische Hürden nehmen – und befragten mit ihrem Programm auch inhaltlich verschiedene Dynamiken von Nähe, Distanz und Zugänglichkeit.

von Sabine Leucht

Erschienen in: double 43: Barrieren | frei – Zugänge zum Figurentheater (04/2021)

Assoziationen: Bayern Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken

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Demenz? Nein! Was in Marthas Denken und Fühlen anders ist, nannte ihr Mann ihre „poetische Verfassung“. Doch nun ist er tot und Martha braucht Hilfe. Die Uraufführung von „Martha“, die im Oktober 2020 beim Internationalen Figurentheaterfestival in München zu sehen war, basiert auf Martina Bergmanns autobiografischem Roman „Mein Leben mit Martha“. Ihre Themen: wahlfamiliäre Sorge, Selbstfindung und -verlust, Angst vor dem Alter und deren Zerstreuung. Regisseur Philipp Jescheck hat Statements von zwölf Münchner Senior*innen aufgezeichnet, deren Lebensbilanzen die im Stück geschilderte Situation nur akustisch rahmen. Dort lebt die alte Dame mit der Buchhändlerin Martina zusammen. Man hilft einander, oft quer zu den Erwartungen, und trotzt den Anfeindungen von außen.

Drei Schauspieler*innen und eine Puppe erzählen diese Geschichte zwischen Stapeln von Büchern. Die Puppe – gebaut von Peter Lutz, geführt von Julia Giesbert – ist Martha: Eine zerbrechliche Schönheit mit der altersfleckigen Haut einer Achtzigjährigen und dem würdevollen Blick einer Königin. Ihr schlanker Körper steckt in einem ärmellosen roten Kleid, und um den Kopf hat sie locker ein dekoratives Tuch geschlungen. Ich denke an meine Oma, die noch im hohen Alter auf ihr Aussehen achtete, und an andere alte Damen, die wie Martha mit 50 Jahren eine Doktorarbeit bei Niklas Luhmann geschrieben haben könnten. Die Besetzung der Titelrolle mit einer Puppe lässt diese Assoziationen zu. Das unbewegliche Gesicht behält sein Geheimnis für sich, während die Wahrnehmung aus dem Schwung eines Wangenknochens oder einer mädchenhaften Geste ihre individuellen Erkenntnisse zieht.

Wenn wir über Barrieren und Schwellen reden, muss auch diese hinein: Die Schwelle, die die eigene Fantasie im Theater zu überschreiten hat und die Puppen dieser Art senken können. Und auch wenn der Abend keine wirklich runde Sache geworden ist und vor allem das Schauspiel oft so überdeutlich wirkt, dass man sich fragt, ob es sich wirklich an Erwachsene richtet, lassen sich anhand dieser Produktion die Schwellenfragen durchdeklinieren: Die Kulturbühne Spagat, die mitten in einer soziokulturell durchmischten Nordschwabinger Neubausiedlung liegt, ist barrierefrei zugänglich. Ihr Träger ist der Verein Horizont, der sich um wohnungslose Mütter kümmert, daher sind auch die Preise moderat. Senior*innen wirkten mit, aber in einem ästhetisch wie formal klar abgesteckten Rahmen. Der Abend beschreibt eine soziale Utopie des Füreinander-Daseins, ohne die Schwierigkeiten auszublenden.

Fruchtbare Barrieren

Der neue Name, den sich die Münchner Figurentheater-Biennale gegeben hat, passt bestens zu diesem Mit- und Ineinander von Freud und Leid: „wunder.“ wird ausgesprochen wie „wunder Punkt“, lässt aber das „Wunder“ mitklingen. Um das Festival im Oktober mit 30 Produktionen aus Tschechien, Frankreich, Israel, Deutschland und der Schweiz durchführen zu können, mussten Festivalleiterin Mascha Erbelding und ihre Mitstreiterinnen vom Verein Kultur und Spielraum und der Schauburg ein mittelgroßes (Um)Planungs-Wunder vollbringen. Dabei gelang es einigen der alternativ eingeladenen oder coronakompatibel gemachten Produktionen sogar, die Barrieren, die die Pandemie mit sich bringt, inhaltlich wie ästhetisch fruchtbar werden zu lassen. So steckte etwa das Stuttgarter Ensemble Materialtheater in „Im Notfall nicht die Scheibe einschlagen!“ vier Akteur*innen einzeln in rollende Glaskästen, wo sie mit Trippelschritten, Klopapier und melancholischem Witz den westlichen Individualismus ad absurdum führten. Andere „Corona-Produktionen“ wiederum senkten ganz praktisch die Zugangs-Schwelle. So konnten Kinder und Erwachsene per Zoom den 250. Geburtstag einer Schildkröte feiern (United Puppets: „Weil heute mein Geburtstag ist“) oder bei der 16 Meter großen schwarzen Kasparine „Punch Agathe“ von Gütesiegel Kultur* auf unterschiedlichen öffentlichen Plätzen einfach so vorbeikommen. Und die beiden Festivalhighlights waren aufgrund des Umzugs in den Innenhof des Münchner Stadtmuseums barrierefrei zu sehen: Matija Solces Wahnsinns-Solo „Happy Bones“ vom tschechischen Teatro Matita, in dem ein knuddeliger Panda die Hand in seinem Hintern loswerden will und damit den Tod wählt – oder die Einladung des Théâtre de l'Entrouvert zu einer Reise in die Geisterwelt: „Traversées“ ist ein traumschönes Stationendrama, in dem Élise Vigneron mit einer ganzen Reihe von künstlichen Körpern fusioniert und hantiert. Man kann in die Entschlüsselung des Abends unheimlich viel Wissen hineinpacken über Bildende Kunst oder Patrick Kermanns Überlegungen zu Zwischenwelten, die die Gruppe inspiriert haben – aber man kann auch einfach in die betörende Schönheit der Bilder eintauchen, ohne jedes Vorwissen und damit über Klassen- und Generationengrenzen hinweg.

Unmittelbare Reaktionen

Die Erfahrung, dass insbesondere Demenzkranke oft unmittelbar auf Puppen reagieren, stand am Ausgangspunkt der Installation „Die Resi und der Kasperl“ der Münchner Gruppe What you see is what you get. Mit sieben Bewohner*innen eines Seniorenzentrums haben die Theatermacher*innen die Figurentheatersammlung des Münchner Stadtmuseums besucht und anschließend drei Typen von Hör- und Schau-Stationen gebaut, die ebendort noch länger zu besichtigen und zu belauschen sind: Kurze Videointerviews, animierte Szenen, in denen Figuren der Ausstellung mit den Konterfeis der Senior*innen und ihre Alltagserfahrungen mit bekannten Geschichten verschmelzen, und binaurale Audioaufnahmen. Letztere sind für mich am spannendsten, weil man im Kopfhörer die Stimmen der Damen hat (und sehr selten auch die des einzigen, stillen Herrn) und die ganze Dynamik zwischen ihren mürrischen und sonnigen Gemütern, zwischen naiver Neugier, spontanen Eingebungen und beflissener Bescheidwisserei – und vor der eigenen Nase die Vitrine mit den Puppen, in denen sie „den Araber“ erkennen, einen Pfleger und ziemlich viele Teufel. Witziges, Trauriges und Staunenswertes tut sich da auf und es wird klar, dass Puppen als Reiseleiter in die eigene Erinnerung fungieren können. Einfach, indem sie da sind. – www.wunderpunktfestival.de

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