Essay
Und was träumt Rosi heute? Ein Aufruf
Zur Bedeutung historischer Stoffe in der Praxis feministischer Dramatik
Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)
Assoziationen: Dramatik Theatergeschichte

Ein Mann versucht, nachts in das Gemach dreier Frauen einzudringen. In geistiger Verwirrung irrt er sich in der Tür und beginnt, liebestoll die Töpfe und Pfannen einer Vorratskammer zu küssen und „auf seinem geilen Schoß zu erwärmen“. Durch einen schmalen Spalt in der Wand beobachten die drei Frauen heimlich das Geschehen, bemüht, sich ihr Lachen zu verkneifen. Der mit Ruß verschmutzte Mann – davon überzeugt, die Frauen hätten ihn mit einem Zauber belegt – fordert anschließend die öffentliche Entkleidung der drei. Dies gelingt allerdings nicht, denn die Kleider heften aus unerfindlichen Gründen fest an den Körpern der Frauen.
Was hier beschrieben wird, ist die Fantasie einer jungen Frau, die während der Regierung Ottos des Großen im Benediktinerinnenkloster Gandersheim lebte und – ungeachtet aller kulturellen Tabuisierungen – Dramen verfasste. In den Jahren zwischen 960 und 970 schrieb die frühmittelalterliche Autorin neben acht Legenden, kürzeren poetischen Erzählungen und zwei umfangreichen Epen auch sechs Dramen in einer Art gereimter und rhythmisch fallender Prosa. Die Tatsache, dass diese Frau, bekannt unter dem Namen Roswitha von Gandersheim, Dramen schrieb, ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert: Das frühmittelalterliche Christentum stand der Praxis des Theaters keineswegs aufgeschlossen gegenüber; vielmehr sah man dem Schauspiel eine Art des Wahnsinns innewohnen, die es sich zu verbieten gelte und die sich unter keinen Umständen mit dem Willen Gottes vereinbaren ließe. Mit der Entscheidung, sich selbst der dramatischen Dichtung anzunehmen, begab sich von Gandersheim dementsprechend auf verbotenes Terrain. Sie wandte sich der Dramatik in einer Zeit zu, in der das europäische Theater praktisch nicht existent war. Hinzu kommt, dass sie dies als Frau tat.
Stücke ohne Bühne
Dem hierarchisch geordneten Geschlechterdualismus des Frühmittelalters zum Trotz ermächtigte sich von Gandersheim dem geschriebenen Wort: Sie erlaubte sich, im Kopf ein Theater zu spielen, das in der Welt, in der sie lebte, undenkbar war. „Freilich ergriff mich oft Scheu vor meiner Arbeit, brennendes Rot übergoß mein Gesicht, denn ich mußt’ ja im Geiste gestalten, mit dem Griffel festhalten verbuhlter Knaben abscheuliche Thorheit und ihr unerquicklich Geschwätz, vor dem wir uns sonst die Ohren zuhalten“, schrieb die Autorin in ihrer Vorrede zu den Dramen und deutete dabei einen der Praxis des Schreibens inhärenten, feministischen Befreiungsakt an, der sich in der Bewusstwerdung des eigenen Tabubruchs manifestierte. Als Leitmotiv ihrer Stücke tritt eine sich im Kostüm des Glaubens vollziehende, weibliche Befreiung vom irdischen Mann hervor, die sich maßgeblich durch eine Wahrung der Jungfräulichkeit, einer Verwehrung, den eigenen Körper zur sexuellen Verfügung freizugeben, auszeichnet. Hier kommt der Religion eine spannungsvolle Stellung innerhalb eines feministischen Behauptungsimpulses zu, dessen historische Zeitlichkeit durchaus Anreiz zur künstlerischen Gegenwartsanalyse dieses Phänomens bietet. Szenen wie die, in der ein ungläubiger Mann in die Grabkammer der gläubigen Drusiana einzudringen versucht, um sich an ihr zu vergehen, und daraufhin von einem Engel in der Gestalt eines Schlangenungetüms getötet wird, geben Aufschluss über eben solche Motive. Zwischen der Bedienung christlich-patriarchaler Ideologien fand die dramatische Dichterin gekonnt Schlupflöcher, um sich dem Theater zu ermächtigen – um das Bild willensstarker Heldinnen zu zeichnen; Heldinnen, die sich sowohl durch ihre körperliche als auch ihre intellektuelle Stärke beweisen. So legt von Gandersheim der Figur der Mutter in „Die Leiden der heiligen Jungfrauen Fides, Spes und Caritas“ beispielsweise die Zahlentheorie des antiken Philosophen Boethius in Form eines Zahlenrätsels in den Mund, mithilfe dessen die Frau den heidnischen Kaiser vorzuführen versteht. Die Frauen werden daraufhin vom Kaiser in den Kerker geworfen, wobei weder vor Auspeitschungen und Verstümmelungen noch vor Verbrennungen und Enthauptungen haltgemacht wird. „Sieh da, wie in dem Feuersqualm ich spiele! Ohne zu verletzen umgaukeln mich die Flammen, statt Feuersglut fühl’ ich des Morgenthaues Kühle?“, heißt es von einer der Töchter während des Folterdialogs.
Hier stellt sich die Frage: Wieso haben es diese Stücke nie auf die Bühnen ihrer Nachwelt geschafft? Nun ja, ein erster Versuch hat bereits stattgefunden: Der ostdeutsche Dramatiker Peter Hacks nahm sich der Sache erstmalig in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts an und entwarf inmitten der zweiten Welle der Frauenbewegung das Stück „Rosi träumt“. In seinem 1975 am Maxim Gorki Theater uraufgeführten Stück machte Hacks die Autorin zur zentralen Figur einer Komödie, in der diese als Tochter des Kaisers und Christenverfolgers Diokletian auftritt und im fleißigen Gebet die Handlung zu lenken weiß: Schlachten beeinflussen, Enthauptungen rückgängig machen und den Mann, dem sie eigentlich verfallen sollte, zum Christentum bekehren. Alles kein Problem für Rosi. Auch die eingangs beschriebene Szene eines im Wahn irrenden Vergewaltigers taucht in Hacks’ Fassung auf, mit dem Unterschied: Die Szene ist ihrer weiblichen Perspektive beraubt. Das sich bei von Gandersheim im Lachen der drei Frauen entladene Empowerment – durch den Spalt in der Wand blickend, über den Eindringling belustigt – ist durch eine Passage, die den Angreifer in einer ironischen Zuspitzung seine Gewaltfantasien begründen lässt, ersetzt worden. Ohne zu missachten, dass es sich um einen ersten richtigen Schritt Hacks‘ handelte, in eine Auseinandersetzung mit diesem Stoff zu treten, ließe sich nun, 48 Jahre später, doch fragen: Wieso nahm Hacks von Gandersheim ihre Rolle als Autorin aus der Hand und schrieb sie stattdessen für sein eigenes Stück in eine aus einer männlichen Perspektive erzählte Figur um? Möglich wäre also ebenso die Frage, ob die Zeit jetzt nicht reif sein könnte, um diesem Perspektivenraub etwas entgegenzuhalten und dem Material eine neue Form zu geben? Eine Form, die – im Sinne des geistigen Erbes der Dramatikerin – eine weibliche Perspektive zu Wort kommen lässt, die erneut dem bislang Unerhörten eine Stimme zu verleihen versucht. Denn: Der literarische Kanon einer Kultur ist stets der Spiegel ihrer Machtverhältnisse. Diesen Gedanken hatte Roswitha wohlmöglich so noch nicht für sich gefasst, und doch hat sie ihn gelebt. Sie hat ihn in ihrem Schreiben aufleben lassen und ihn den nachfolgenden Generationen junger Dramatiker:innen und Autor:innen zur Verfügung gestellt – ein Erbe, das es zu verwalten gilt. Welche Dinge ließen sich sichtbar machen, wenn die Dramen der Roswitha von Gandersheim nun noch einmal neu geschrieben würden? Wovon träumt eine Rosi des 21. Jahrhunderts? Was sind ihre Wünsche und Sehnsüchte? Und viel wichtiger: Wo liegt das Unerhörte?
Die Strategie, den Blick in der Auswahl dramatischen Materials historisch weiter zu fassen, sodass der Erkundung wichtiger Kontinuitäten und Zäsuren unserer Gesellschaft im Theater eine künstlerische Sprache zur Seite gestellt wird, ist offenkundig keine revolutionäre Neuentdeckung. Als ein aktuelles Beispiel dieses Verfahrens sei das Autor:innen-Duo Matter*Verse (Marie Lucienne Verse und Selma Matter) zu nennen, das für eine Inszenierung der Regisseurin Fritzi Wartenberg im Rahmen des Nachwuchsförderprogramms WORX am Berliner Ensemble im März 2023 das Stück „Alias Anastasius“ entwickelte. Hier wurde das Leben einer historischen Figur mit dem Namen Catharina Margaretha Linck aus dem 18. Jahrhundert herausgegriffen: Linck, später bekannt unter dem Namen Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, floh als junger Mensch aus einem Waisenhaus in Halle, um in Männerkleidern ein neues Leben zu beginnen. Nach einer Zeit als Soldat im Spanischen Erbfolgekrieg desertierte Anastasius und verhinderte durch Offenbarung des eigenen Geschlechts seine/ihre Hinrichtung. Anschließend heiratete sie/er eine Frau und wurde 1721 als letzte weiblich gelesene Person wegen Sodomie enthauptet. Das Stück erzählt die Geschichte eines kriminalisierten Menschen, der in dem Versuch, die eigene innere Wahrheit nicht ersticken zu lassen, eine scheinbar festgelegte Welt ins Wanken bringt. Was bei „Alias Anastasius“ passiert, ist die künstlerische Sichtbarmachung einer Vergangenheit. Mithilfe dieser Sichtbarmachung – mithilfe des Erinnerns – wird dem Theater eine politische Sprengkraft bereitgestellt, die in ihrem Explosionsradius niemals zu unterschätzen ist (siehe „Zwischen Wolken und Gummizellen” unter tdz.de).
Rosi im 21. Jahrhundert
Im Fall von Roswitha von Gandersheim ließe sich nun also fragen, ob Peter Hacks‘ „Rosi träumt“ nicht womöglich sein feministisches Haltbarkeitsdatum überschritten hat. Also: Die Zeit für eine erneute Sichtbarmachung ist gekommen – die Zeit, in der eine nächste Generation von Autor:innen nach den Stücken der ersten deutschen Dramatikerin greift, einen neuen Versuch wagt und die Fantasien dieser frühmittelalterlichen Frau in eine neue Zeit trägt, sie selbst und anders denkt, sie zerlegt, neu aufbaut, würdigt, verwirft und neu befragt. Die Herausforderung dieses Erbes liegt vermutlich in der Aufgabe aufzuspüren, worin das Unerhörte unserer Zeit liegt – zu erspüren, worin die Differenzen und Gemeinsamkeiten jener Träume liegen, die Rosi im 18. Jahrhundert zu träumen wagte, und jenen, die Rosi im 21. Jahrhundert träumt. Und dann zu beginnen, mit eben diesem Unerhörten im eigenen Geist Theater zu spielen.