Auftritt
Sticky Fragments: Die Audiodeskription als Kunstform
„Minor Glitch“ – Ein Physical Theatre Stück mit kreativer Audiodeskription von und mit Meret König, Valentin Schwerdfeger und Charlie Wyrsch, Musik Katrin Meier
von Stefan Keim
Assoziationen: Freie Szene Performance Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Dossier: Inklusion Sticky Fragments
Blinde, Sehende und Sehbehinderte sind ein Publikum auf Augenhöhe. Das ist die Aufgabe, die sich das Kollektiv Sticky Fragments gestellt hat. Die ersten beiden Aufführungen gab es in barnes crossing, einem von Kölner Choreograf:innen selbst verwalteten Produktions- und Aufführungort auf dem Gelände der Wachsfabrik in Köln-Rodenkirchen. Ziemlich weit draußen, die Straßenbahn hat Verspätung. Das Ensemble ist im Foyer, begrüßt das Publikum, kümmert sich um jede einzelne Person. Das ist der Geist dieses Theaterabends.
Die drei legen – unterstützt von einem Trio, das einführende Texte liest – eine Rampe vor die Stufe zum Theatersaal. Alle fassen eine Schnur an, die durch das Bühnenbild zu den Sitzen führt. Unablässig bekommt das Publikum erklärt, was sie ertasten können. Wir sollen die Teile des Bühnenbilds berühren, an denen wir vorbeikommen. Später beschreibt das Kollektiv, was es da aufgebaut hat, einen Metallcube mit einer Projektionsfläche dahinter.
Erst als ich jetzt diesen Text schreibe, fällt mir auf, dass ich als Sehender theoretisch genervt sein könnte. Denn mir wird ja eine Menge erklärt, das ich eigentlich sehen kann. Es hat mich aber überhaupt nicht gestört. Im Gegenteil, ich fühle mich an die Hand genommen und hineingeführt in den Abend. Was daran liegt, dass nicht einfach Alltagssprache benutzt wird, sondern die Sätze genau ausformuliert sind und später auch einen Rhythmus bekommen. Die Audiodeskription ist nicht nur ein Hilfsmittel, sondern Kunst. Natürlich gibt es dafür einen englischen Fachbegriff, die „aesthetics of access“.
„Minor Glitch“ bedeutet übersetzt „kleiner Fehler“. Doch mit der Welt scheint Existentielles passiert zu sein. Drei Menschen haben sich in diesen Kubus zurückgezogen. Sie ignorieren, was um sie herum geschieht. „Wir machen immer weiter“, sagen sie. „Und das ist ein Glück. Zum Glück. Drinnen frohlockt das fleißige Fleisch. Drinnen optimales Klima.“ Natürlich bleibt das nicht so.
Die Bühne besteht aus einfachen Elementen. Das ist keine reiche Theaterproduktion, sondern ehrliches, direktes Off-Theater. Ob die Welt einer Apokalypse entgegensteuert, wird nicht ganz klar. „Kistenchaos“ herrscht, wird einmal gesagt. Die drei werden in die Realität gesogen und verändern sich. Die Körper morphen, werden zu Tieren, ein:e Performer:in trägt einen riesigen Kistenstapel auf dem Rücken. Die drei sind enorm beweglich, klar, die Basis von Sticky Fragments ist das physical theatre. Sie besteigen den Cube, einer gibt Hilfestellung, obwohl das die Kollegin gar nicht nötig hat. Niemals sind diese akrobatischen Bewegungen Selbstzweck, um Applaus zu bekommen. Im Gegenteil, das Ensemble unterspielt sie mit sanfter Ironie.
Weiterhin wird das Publikum unaufdringlich geleitet. Das Ensemble weist sogar auf den Moment hin, an dem wir applaudieren können, wenn wir mögen. Bevor wir die Kostüme und Kisten anfassen dürfen und am Seil wieder hinausgehen. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Theaterstück Blinde und Sehende auf gleichem Level erreichen will. Selen Karas Liederabend „Mit anderen Augen“ in den Bochumer Kammerspielen ist ein weiteres gelungenes Beispiel. Die Herangehensweise erinnert ein bisschen an Kindertheater, doch die Inhalte sind erwachsen. In „Minor Glitch“ geht es darum, dass kleine Pannen positive Veränderungen auslösen können. Weil sie das festgefügte System stören und Raum für neue Gedanken öffnen. Die Aufführung endet in Begegnungen und Gesprächen. Und man spürt, dass Sticky Fragments auf diesem Weg eines inklusiven und transdisziplinären Theaters noch lange nicht am Ende sind.
Erschienen am 18.12.2024