Bericht
„Finnish puppetry is ready to conquer the world!”
Freie finnische Puppenspielszene auf dem TIP-Fest in Turku
Sie sind bereit. Mit jugendlicher Energie, mit lupenreinem Englisch, mit transportablen Stücken. Das finnische Puppenspiel möchte international werden. Zum Auftakt lud es Beobachter aus zwölf Nationen zum „first ever Finnish Puppetry Showcase“, dem Turku International Festival/TIP-Fest 2017, nach Turku ein. Mit 18 Produktionen bot dieses einen eindrücklichen Einblick in Gegenwart und Zukunftswollen der freien Szene Finnlands
von Katrin Gellrich
Erschienen in: double 37: „Deutsch sein?!“ – Eine Frage zur Zeit (04/2018)
Assoziationen: Kritiken Puppen-, Figuren- & Objekttheater Freie Szene Europa Theaterkritiken
Turku, das ist jene Stadt ca. 160 km westlich von Helsinki, welche ab 1999 im Kunstdepartment der University of Applied Sciences einen Studiengang für Puppenspiel anbot – wohlbemerkt den einzigen in ganz Skandinavien. So ist es denn eine große Tragödie, dass dieser Studiengang mittlerweile schon wieder geschlossen wurde. Aus Geldgründen; es werde derzeit an vielen Bereichen der Kunst gespart, sagte man mir. Eine nach rechts rückende Regierung, ergänze ich im Kopf.
Gemeinsam sind sie stark
Die letzten Mohikaner erhalten in diesem Jahr ihren Abschluss, dann sinkt das kurzlebige Schiff. Grob überschlagen heißt das: Bei plusminus zehn Abgängern pro Jahr leben in Finnland kaum mehr als 150 Puppenspiel-Absolventen. Da kann Berlin nur lachen. Doch auch diese wollen gehört und gesehen werden. Bei ganzen drei öffentlich geförderten Puppentheatern im Land (mit je weniger als einer Handvoll festangestellten Puppenspielern) und den auch in Finnland existenten Vorbehalten gegenüber dem Genre ist das kein Selbstläufer. Um die Strahlkraft des finnischen Puppenspiels zu erhöhen, tat man 2012 einen äußerst cleveren Schachzug: Man gründete die „Aura of Puppets“ („Aura“ auch in Anspielung an den gleichnamigen, lebensspendenden Fluss, der durch Turku fließt) als „a network, coalition and an umbrella for contemporary puppet theatre“. Rund 50 Puppenspieler und Kollektive, größtenteils Absolventen aus Turku, haben sich darin zusammengeschlossen. Sie arbeiten völlig unabhängig voneinander, leisten sich aber eine gemeinsame Basis in Turku: ein Büro samt (äußerst kleinem) Probenraum und Werkstatt sowie drei Manager, welche sie bei der Organisation von Auftritten, dem Stellen von Förderanträgen sowie der gemeinsamen Werbung unterstützen.
Im gemeinsamen Flyer der „Aura of Puppets“ heißt es selbstbewusst: „Finnish puppetry is ready to conquer the world!“ Ein Meilenstein auf diesem Weg ist das 8. TIP-Fest. In den bisherigen Ausgaben ging es zunächst darum, das regionale und nationale Publikum auf sich aufmerksam zu machen. 2017 folgte nun die Öffnung für internationale Gäste – mit dem dezidierten Wunsch nach Austausch, nach Vernetzung, nach Gastspieleinladungen und Kooperationen: „TIP-Fest is committed to helping our artists to (…) create more meaningful work and discovering new ways of working and thinking. One of our goals is to increase the international exchange of artists and to find ways for artists from different backgrounds to work together.“1
Um das (inter)nationale Publikum von der Qualität des finnischen Puppentheaters zu überzeugen, hat die künstlerische Leitung des Festivals, Roosa Halme, Anna Nekrassova und Outi Sippola, ein äußerst vielseitiges Programm zusammengestellt. Zu sehen sind sowohl finnische Puppentheater-Klassiker als auch neue Produktionen und sogar eine Weltpremiere. Unter den 18 Inszenierungen befinden sich neun Solos, fünf Duos und zwei Ensemble-Produktionen, sechs Kinderinszenierungen, zwei Open-Air-Erlebnisse und drei Aufführungen für nur einen Zuschauer. Wer das Glück hatte, sämtliche Vorstellungen besuchen zu können, dem fielen einige Gemeinsamkeiten auf, die man vielleicht – ganz vorsichtig natürlich – als Charakteristika des freien finnischen Puppenspiels bezeichnen könnte.
Sie haben etwas zu sagen
Da ist zum einen das offensichtliche Herzblut: Kaum eine Inszenierung, die nicht ein drängendes Thema bearbeitete. Das kann persönlicher Natur sein, wie in „Crab“ von Laura Sillanpää, die in ihrem Solo mit Krabbenfiguren von Polina Borisova einfühlsam zeigt, wie das Fremde – die Krabbe, das Wasser – unaufhaltsam von ihr Besitz ergreift. Während der Proben stand sie dafür in engem Austausch mit Krebspatienten. Trotz kleiner Schwächen des Stücks führen die poetische Übersetzung der Krankheit und ihre berührende Darstellung zu einer großen Authentizität.
Um die Akzeptanz von Menschen mit „anderer“ Sexualität geht es der Inszenierung „John-Eleanor“ des Tehdas Teatteri, die längst zum finnischen Puppentheater-Klassiker avanciert ist. Die Mischung aus Lecture-Performance und Handpuppenspiel erhält ihren besonderen Reiz durch die Symbiose des Historikers Tom Linkinen und des Puppenspielers Timo Väntsi. Mit großem Charme erzählen die beiden mit je eigenen Mitteln die wahre Geschichte von John Rykener, dem einzigen dokumentierten Fall eines Transgender-Lebens im Mittelalter. Eine unterhaltsame Show, bei der man sich des Gedankens nicht erwehren kann, dass sich die Welt seitdem offenbar nicht viel weitergedreht hat. Das Tehdas Teatteri ist übrigens ein Theater-Produktionshaus und Gastgeber des TIP-Fests. Das große Glück der „Aura“-Künstler ist es, dass mit Timo Väntsi ein Puppenspieler die künstlerische Leitung innehat und sie regelmäßig gastieren lässt – jedenfalls, bis er die Leitung in der kommenden Spielzeit abgibt.
Die herausragende Inszenierung des Festivals ist zweifellos „Invisible Lands“ des Livsmedelt Theatre, bestehend aus der schwedischen Tänzerin Sandrina Lindgren und dem israelischen Puppenspieler Ishmael Falke. Lindgren arrangiert auf dem nackten Körper ihres Partners mit aufklebbaren Miniaturfiguren immer neue Szenen von Flucht und Migration. Das stumme, extrem ästhetische Spiel ist nur mit Musik und Phantasie-Wortfetzen unterlegt. Falkes Körper wird nicht nur zur Landschaft für die Fluchtszenen, sondern spiegelt gleichzeitig die emotionalen Erlebnisse der Menschlein wieder, die sich auf ihm bewegen. Eindrücklich ist z. B. die Schlussszene, in der Falkes Körper leblos in sich zusammengekrümmt liegen bleibt. Auf seinem Rücken haben Miniatur-Menschen gerade einen an den Strand gespülten Körper, der sich hilfesuchend nach ihnen gestreckt hatte, achtlos liegenlassen.
Sie sind offen und praktisch
Eine weitere Auffälligkeit ist das seltene Auftreten der klassisch animierten Theaterpuppe. Lediglich Merja Pöyhönen sticht in ihrem Solo „Missing Amelia Earheart“ über die verschollene Flugpionierin mit äußerst gekonnter Animation ihrer offen geführten Figuren heraus. Die Technik der Separation von Figur- und Spielerrolle gelingt ihr perfekt – handwerklich einer der Höhepunkte des Festivals.
Bebildertes Papier-Erzähltheater zeigen Anna Uschanov mit „Atlas on the other side of the fence“ und das Teatteri Sudenne mit „Agony of Emma Eckstein“. Roosa Halme erfindet in „Block Theatre“ mit einem Satz Holzbausteinen immer neue phantasievolle Figuren, die sie ihre kleinkindlichen Zuschauer anschließend deuten lässt. Und das Kollektiv Kuuma Ankanpoikanen macht sich mithilfe von Ganzkörperkostümen inklusive Masken selbst zu Figuren. Die beiden „Stücke“ „Gorilla Gorilla“ und „Assholes“ sind aus Straßentheater-Performances entstanden. Die Begegnung mit einer Horde ziemlich menschlicher Affen oder Slow-Motion-Touristen in Fatsuites im öffentlichen Raum mag irritierend bis witzig sein – gezogen über mehrere Stunden auf der Bühne sind sie eine Zumutung.
Die Freude am Experiment jenseits der klassischen Theaterpuppe mag in der Ausbildung begründet sein, die die Aura-Künstler in Turku genossen haben. Mira Taussi, die beim TIP-Fest die Weltpremiere „Rooms by the sea“ – eine von Bildern Edvard Hoppers inspirierte, bespielte Installation – als Regisseurin verantwortet hat, beschreibt sie so: Man habe von allem etwas gelernt. Konstruktion und Manipulation verschiedener Theaterfiguren (mit Schwerpunkt auf Tischpuppe und Objekt), Licht, Ton. (Schauspiel, Sprechen und Singen eher weniger!) Eine Ausbildung also, die sich ganz nach den Erfordernissen des Marktes für freischaffende Puppenspieler richtet. Wer als Gesamtkünstler ohne Puppenbauer, ohne Techniker und wenn möglich noch ohne Text auskommt, der hat die besten Chancen, gebucht zu werden.
Nicht immer gelingen diese One-Man-Shows so elegant wie bei Linda Lemmetty, die den (einzigen) Zuschauer in „Only one suitcase allowed“ zum Voyeur des Schicksals der abwesenden Anne Frank macht. Durch klitzekleine Löcher in Koffern spähend, erlebt man die wohlbekannte Geschichte endlich wieder berührend. Die bis ins kleinste Detail ausgearbeitete Ausstattung beweist die große Empathie der Künstlerin und ihrer Partnerin Outi Sippola, der man sich nicht entziehen kann.
Das finnische Puppenspiel also ist bereit. Es ist jung, es ist wunderbar offen, es ist markttauglich und es ist willens. Es ist den „Aura“-Künstlern von Herzen zu wünschen, dass ihr großes Engagement dafür sorgt, dass das Land im Norden auf der europäischen Figurentheater-Karte erscheint – auch, weil es sie selbst ungemein bereichern würde, den sicheren Hafen von Turku zu verlassen und sich die Vielseitigkeit des internationalen Figurentheaters zu erschließen. Welche Funken da entstehen könnten!2 – www.ccturku.com – tip-fest-puppetry – www.auraofpuppets.com
1 Aus einer Mail von Jesper Dolgov, einem der Manager von Aura of Puppets.
2 Einen Überblick über die gesamte finnische Theaterlandschaft bietet die Webpage „TINFO.fi“, die nicht nur sämtliche Vorstellungen in ganz Finnland und auf Tournee im Spielplan hat und Umsetzungen finnischer Stücke in aller Welt aufspürt, sondern auch wertvolle Hilfestellungen für die Zusammenarbeit mit finnischen Theaterkünstlern bietet.