Auftritt
Berliner Ensemble: Fallada unterm glühenden Mond
„Kleiner Mann – Was nun?“ von Hans Fallada in einer Textfassung von Frank Castorf – Regie Frank Castorf, Bühne Aleksandar Denić, Kostüme Adriana Braga Peretzki, Sounddesign William Minke, Videokonzeption Jens Crull, Andreas Deinert
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Ensemblekultur heute – Gisèle Vienne Unheimliche Collagen (10/2024)
Assoziationen: Berlin Regie Theaterkritiken Frank Castorf Berliner Ensemble
Es dauert reichlich zwanzig Minuten, bis die Romanhandlung mit ihrem Beginn beim Frauenarzt und der Feststellung von Lämmchens Schwangerschaft einsetzt. Davor hat das siebenköpfige Ensemble ein riesiges rotes Tuch im Hintergrund heruntergerissen und zusammengelegt, ist die fast leere Bühne intensiv berannt worden und waren nicht leicht zu ortende Texte von der Rampe zu hören. Klar ist: Der Autor Hans Fallada, Trinker, Morphinist und seit seiner Jugend manischer Schreiber, ist hier eine Hauptfigur. Und das Stück, bei dem sich Castorf in einigen wesentlichen Szenen an der erst 2016 wiederentdeckten Originalfassung des Romans orientiert, vielleicht ein fiebriger Traum. Man singt Fabers „Nie wieder Kokain“: „Ich hab’ so viel zu erzählen. Und gar nichts zu sagen“. Eine Anti-Exposition.
Doch dann kommt die Sache – zuletzt griff Castorf seine Berlin-Heimatkunde mit Erich Kästners „Fabian“ am selben Haus wieder auf – ziemlich schnell auf Temperatur, und der Fallada-Trinker-Morphinist ist mit Einsprengseln aus seinen autobiografischen Texten fast immer dabei. Auch die politischen Bruchlinien werden schnell sichtbar gemacht. Was Fallada mit seinen Figuren aus dem Jahr 1930 erzählt, vor allem aber was Castorf da herauslöst, spielt vieles an, was heute wieder diskutiert wird. Der Besuch bei Lämmchens Familie – arme, aber stolze Hamburger Proletarier – zeigt, dass es bei Klassismus um Klassenschranken geht, die auch politisch zementiert werden. Castorfs Assoziationsachterbahn führt von hier gleich mal bis zum spanischen Bürgerkrieg und dessen kämpferischem Liedgut. Überhaupt, William Minkes Soundtrack erzählt mindestens genauso viel wie Fallada. Mal Ton Steine Scherben in einem subtilen Instrumental-Loop, dann wieder Punk-Protest von heute mit Die Kassierer: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! – Wer war mit dabei? Die Grüne Partei!“ (Mit überraschendem Beifall des Premierenpublikums – als Barometer der Stimmungslage eine Woche vor den Wahlen in Brandenburg.)
Die Bühne ist erstmals seit der über zwölfjährigen Zusammenarbeit mit Aleksandar Denić leer. Nur an ihrem rückwärtigen Ende hat der einen klaustrophobischen Video-Raum für das Kaufhaus Mandel eingerichtet, wo Pinneberg offenbar als einzige Ware Jacketts in allen Regenbogenfarben verkaufen soll, was ihm bekanntlich nach den Auflagen eines damaligen McKinsey-Controllers das Genick brechen wird. Die Kostüme von Adriana Braga Peretzki sind indes so üppig facettenreich wie sonst die Bühnenbilder von Denić: von 1920er Varieté-Chic bis zu Anklängen an den Swiftie-Look für die Frauen, Seidenmorgenmäntel oder feinstes Anzugtuch für die Herren.
Eine drastische Ausdeutung von Pinnebergs Mutter Pia und deren Lebensgefährten Jachmann zeigt, wo Castorf die Abgründe des Romans findet, seine Nachtseite. Im Buch eine diskrete Andeutung von Wohnzimmerprostitution zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards sind die beiden hier unter der Drehbühne im finalen Kampf als Drogenwrack und mauliger Zuhälter ineinander verbissen. Artemis Chalkidou hat in der langen Szene einen großartigen, beklemmenden Auftritt, zu dem Andreas Döhler aus der fast zeitgleichen Welt des Franz Biberkopf mit blutbeschmiertem Hemd zu kommen scheint. Wer Falladas Buch immer noch als eine warmherzig erzählte Geschichte vom sentimentalen Traum einer Kleinfamilie in schwierigen Zeiten in Erinnerung hat, wird hier endgültig auf ein anderes Gleis gesetzt.
Dieses führt, nicht zwangsläufig, aber doch assoziationsgelenkt, zu „Die Nacht der langen Messer“ aus Heiner Müllers 1975 beendeter Szenenfolge „Die Schlacht“, wo sich zwei in der politischen Gewalt des Nationalsozialismus gebrochene Brüder feindlich gegenüberstehen. Am Ende der Fallada-Montage nimmt Castorf noch zwei weitere Szenen aus diesem Stück auf, in denen menschlich unmenschliches Verhalten am Ende des totalen Kriegs in aller Härte gezeigt wird. Als ob der weiche, auf sein kleines Glück bedachte Pinneberg in dieser Welt enden könnte, ja mal geendet haben muss.
Die Amplitude zwischen solchen Szenen und dann wieder karnevalesk verrückten Gruppenexzessen ist in dieser Inszenierung besonders groß. Die riesige rote Fahne vom Anfang wird in der – erst in der rekonstruierten Romanfassung wieder ausführlich geschilderten Nachtclubszene – zum rasend bewegten Zeltdach über den vor einer fiebrigen Live-Kamera wie verrückt agierenden Schauspieler:innen. Hat man so noch nicht gesehen. Und vielleicht hat ja diese rote Fahne, könnte man meinen, vieles zugedeckt und darunter auch möglich gemacht. In solchen Momenten ist wieder einmal Castorfs Schauspiel-Energie-Entfesselung zu bestaunen, und mit – fast alle in mehreren Rollen – Artemis Chalkidou, Maximilian Diehle, Andreas Döhler, Jonathan Kempf, Pauline Knof, Maeve Metelka und dem ebenso famosen Gabriel Schneider seine neueste Bühnen-Gang am Berliner Ensemble zu bewundern.
Am Ende gehen Andreas Döhler und Pauline Knof als Fallada und seine femme fatale-Frau Ursula einer fahlen Sonne oder einem glühenden Mond entgegen. Knof kommt nochmal nach vorn und verrät, sie habe ihm zu viel Schlafmittel gegeben. Aus der Traum.