Theater der Zeit

Bericht

Balanceakte

„23 thoughts about conflict“ von Worst Case Scenario

Namer Golan, Gil Lavi, Danielle Cohen Levy und Tomilio Munz bilden das israelische Künstler*innenkollektiv Worst Case Scenario, deren Performance „23 thoughts about conflict“ bei der Fidena 2018 zu sehen war (besprochen in double 38). In einer collagenhaften Versuchsanordnung werden darin 23 der Wirklichkeit entlehnte Szenarien, in denen Alltagssituationen (beinahe) eskalieren, als poetisch-artistische, mal humorvolle, mal nachdenkliche Nummernrevue durchgespielt.

von Christina Röfer

Erschienen in: double 39: Gewalt spielen (04/2019)

Assoziationen: Akteure Performance

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„I wish nobody ever loves you, you piece of shit!”, faucht die Performerin Danielle Cohen Levy ins Mikrofon. Die schlimmste aller Beleidigungen wollte sie kreieren: Politisch korrekt sollte sie sein, weder sexistisch noch rassistisch noch sonst irgendwelche Machtstrukturen bedienend. Aber zugleich wirklich böse – eine wohl durchdachte verbale Vernichtung. 

Konflikte können sich unterschiedlich äußern und vielfältig verletzen, etwa als Meinungsverschiedenheit, als gewaltsame Auseinandersetzung oder gar als tödliches Kriegsszenario. Selbst gut gemeinte Komplimente können zur Kränkung werden, wie gleich zu Beginn des Stücks augenzwinkernd deutlich wird: „I’m sure there are people who really like what you do.” Mit artistischem Geschick und viel Humor haben Cohen Levy und ihre Mitstreiter in einem stark körperlichen Zugang szenische Übersetzungen für dieses breite Konfliktspektrum gefunden und bringen dessen verschiedene Dynamiken virtuos und im wahrsten Sinne des Wortes ins Spiel.

Der richtige Ton

Schon die mit Folie ausgekleidete Bühne indiziert die Versuchsanordnung. An den Seiten sind verschiedene Requisiten zunächst sorgfältig aufgereiht, später zeugt das hinterlassene Chaos stumm von den verhandelten Konflikten und Streichen: Als Namer Golan etwa ein Beil auf der Stirn balanciert, um es mit einem schwungvollen Stoß vermeintlich auf einen Holzblock krachen zu lassen, den die Kolleg*innen jedoch durch seinen Laptop ersetzt haben, splittern die Tasten durch den Raum. Trinkgläser werden kraftvoll in einen Eimer geschmettert, Stühle umgeworfen, Bälle und Holzlatten im Raum verteilt. Tomilio Munz überwindet diese Hindernisse tänzerisch, mal ruckartig und kraftvoll, mal mit sanften, schützenden Bewegungen. Konflikte sind oft laut, ihre Lösungen erfordern nicht selten Flexibilität.

Der transkribierte Text eines Streits zweier Nachbarinnen dient Cohen Levy als fünfaktige Partitur, aus der sie mal grollend, mal in höchsten Tönen eine Tirade wüster Beschimpfungen in rhythmisiertem Zwiegespräch über das Publikum ergießt, untermalt vom streng choreographierten Stampfen ihrer drei Kollegen und klatschenden Ohrfeigen, die sie sich selbst verpassen. Eine grüne Plane, aufgehängt als räumliche Trennung zwischen den Streitenden, beendet schließlich die Auseinandersetzung. Manchmal sei die Lösung so einfach, genüge eine kleine, beruhigende Geste, schildert Cohen Levy später in einem kurzen E-Mail-Austausch: „In einer der ersten Versionen des Stücks dachten wir darüber nach, eine Hotline einzurichten, die Leute anrufen und dann eine Aufnahme hören, die ihnen sagt ‚Hallo! Du hast vollkommen Recht. Ja, hast du. Einen schönen Tag noch!‘“ Im Konflikt gilt es also auch, den richtigen Ton zu finden. Dafür hat der Musiker Gil Lavi seine selbst gebauten Instrumente und Apparaturen aufgebaut, mit Hilfe derer er das Geschehen musikalisch untermalt, mal kommentiert oder übertönt.

Der Schlimmste aller denkbaren Fälle

Erneut balanciert Golan, der im Stück auch mehrfach seine Jonglage-Fähigkeiten unter Beweis stellt, einen scharfen Gegenstand auf der Stirn: Gerade rechtzeitig greift er die große Schere im Fall aus der Luft, bevor diese den vor ihm knienden Munz trifft. Im Konflikt ist eine Situation aus dem Gleichgewicht geraten und der Kippmoment, hier körperlich verbildlicht, ist besonders sensibel. Denn für einen kurzen Moment ist ungewiss, wie die Sache ausgehen wird – und das Spiel wird ernst.

Wie schnell sich die Perspektive völlig verändern kann, wurde auch auf der Fidena deutlich: Sichtlich erschüttert traten die Performer*innen nach der Vorstellung vor das Publikum und berichteten von ihrer Unsicherheit, ob sie überhaupt hätten auftreten sollen. Am Vortag waren bei Protesten im Gazastreifen mehr als 50 Palästinenser*innen gestorben und über zweitausend Menschen verletzt worden. Das Stück vor dem Hintergrund dieses seit Jahrzehnten andauernden Konflikts zu lesen, empfindet Golan nicht als Überinterpretation: „Für mich persönlich kann […] die Besetzung und Unterdrückung der Palästinenser*innen durch den Staat Israel in keinem Kontext ignoriert werden. Ein Stück, das dort herkommt und sich nicht mit der politischen Situation auseinandersetzt, ist auch ein politisches Statement. Ich denke, dass ich als israelischer Künstler eine Verantwortung habe, etwas zu sagen, erst recht in einem dokumentarischen Stück.“

Der spielerische Ansatz der vier Performer*innen erscheint deshalb nicht als Ausflucht, vielmehr unterstreicht gerade das Wechselspiel aus vergleichsweise harmlosen Streichen und einschneidenden gewaltvollen Erlebnissen, wie etwa einem Autounfall, einem blutigen Streit auf offener Straße oder einer Todesdrohung die potenzielle Wirkkraft konflikthafter Auseinandersetzungen. Dass hinter den einzelnen Nummern viel größere, gesellschaftliche und politische Dimensionen liegen, schwingt dabei permanent mit. In Nebensätzen etwa, wenn die Performerin sich als Fan der Polizei zu erkennen gibt, da diese gesetzlich dazu verpflichtet sei zu helfen, oder wenn die Frage aufkommt, wie viel Land eine Person eigentlich tatsächlich braucht. Die kleinen Konflikte spiegeln die großen, geben in ihrer relativen Belanglosigkeit Aufschluss über die Schwierigkeiten des menschlichen Zusammenlebens. In Zeiten, in denen scheinbar gewinnt, wer am lautesten poltert, erscheint es deshalb fast schon als subversiver Akt innezuhalten, die eigene Haltung zu reflektieren und bedacht zu handeln. So lösen Worst Case Scenario die Spielsituation nicht nur am Ende buchstäblich mit aufsteigenden Ballons in Luft auf, sondern geben dem Publikum auch eine Entspannungsübung mit auf den Weg. Gemeinsam die Augen schließen, tief durchatmen, kurz strecken und mit klarem Kopf erneut auf die Situation schauen: „Every coin has two sides … all things are connected.” Besinnen wir uns also auf die Balance. – www.as-is-arts.com/item/worst-case-scenario

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