Protagonisten
Jetzt samma da!
Nach zehn Jahren Planung und drei Jahren Bauzeit bezieht das Münchner Volkstheater unter großem Jubel sein neues Haus
Erschienen in: Theater der Zeit: Kleiner Mann, was nun? – Geschlechterbilder im Theater – Ein Jahresrückblick (12/2021)
Assoziationen: Bayern Akteure Sprechtheater Dossier: Neubau & Sanierung Münchner Volkstheater

„I woaß gar ned, wo i ofanga soi!“, erklärt Christian Stückl in gewohnt tiefem Bairisch („Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“), und für einen Moment scheint es so, als fehlten ihm – überwältigt von der Feierlichkeit des Augenblicks – tatsächlich die Worte. Rasch findet der Intendant des Münchner Volkstheaters dann aber doch zu alter Redseligkeit zurück, befeuert durch den Überschwang der Gefühle des Neubeginns. „Jetzt samma da!“, konstatiert er glücklich, also: „Jetzt sind wir da!“, angekommen nach rund zehnjähriger Reise.
Es ist Mitte September, noch fünf Wochen bis zur Eröffnung des neuen Münchner Volkstheaters. Stückl stellt die Pläne für die erste Saison am künftigen Standort vor. Und er präsentiert natürlich vor allem den Neubau selbst, den es ohne ihn nie gegeben hätte, wie Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter bei der Spielplan-Pressekonferenz betont: „Er war der Motor, das muss man ganz klar sagen“, lobt der OB und wirkt dabei überaus dankbar für die Beharrlichkeit, mit der Stückl das Projekt vorangetrieben hat. Reiter strahlt vor Besitzerstolz angesichts des stattlichen Neubaus mit rund 10 000 Quadratmetern Grundfläche, in dem 3000 Tonnen Stahl verbaut und 5000 Meter Starkstromkabel verlegt wurden.
Von außen mutet das von Architekt Arno Lederer konzipierte Gebäude mit seinem fast 30 Meter hohen weißen Bühnenturm und seinen klinkerverkleideten Grundmauern an wie ein Ozeandampfer, in dessen Bauch Probenräume, Werkstätten und Lager Platz finden, alles unter einem Dach; und natürlich die Bühnen des Volkstheaters, drei an der Zahl; sowie – ganz wichtig für den Oberammergauer Gastwirtssohn Christian Stückl – ein Restaurant samt Biergarten, auf den man geradewegs zuläuft, wenn man durch den weit gespannten Eingangsbogen den Theatervorplatz betritt, einen Innenhof, der links von einem sanierten Altbau begrenzt wird, in dem Dramaturgie und Verwaltung untergebracht sind. Rechter Hand führen Glastüren durch einen elegant geschwungenen Vorbau ins eigentliche Theater.
Das lang gestreckte, in Blau-, Grün- und Gelbtönen gehaltene Foyer mit in die Decke eingelassenen, kreisrunden Lichtern beherbergt Garderobe, Getränketheke und Theaterkasse. Von dort geht es in den zentralen Theatersaal, der mit seinen stark ansteigenden Sitzreihen 600 Personen fasst. Optimale Sicht, auch aus den hinteren Reihen, zu denen der Zugang durchs obere Foyer erfolgt, in das sich eine geschwungene Treppe emporschraubt. Dazu gibt es noch die mittlere und die kleine Bühne mit 200 respektive 100 Plätzen.
Zur Eröffnung Mitte Oktober bespielte Christian Stückl aber natürlich erst mal den großen Saal – mit „Edward II.“. Shakespeare-Zeitgenosse Christopher Marlowe verhandelt darin den Fall eines schwulen Königs, der seinen Geliebten an den Hof holt und pampert, darüber die Regierungsgeschäfte vernachlässigt und so Klerus und Adel gegen sich aufbringt. Es gibt, grob gesagt, zwei Lesarten des Stücks: Da wäre einerseits die Tragödie eines Einzelnen, der sich selbst verwirklichen will, dabei aber an den Konventionen seiner Zeit zerbricht; andererseits aber auch die Warnung vor dem Untergang eines Gemeinwesens durch diesen Alleingang, der die Ordnung der gesamten Welt ins Wanken bringt. Im elisabethanischen Denken spiegelte die gesellschaftliche Hierarchie die Harmonie der Schöpfung wider. Nur wenn alle an ihren Plätzen bleiben, bleibt auch die Welt im Gleichgewicht. Edward als Monarch ist der zentrale Fixstern dieses Universums und kann folglich nicht einfach einen „Tiefgeborenen“ (wie der Hofstaat Edwards Günstling Gaveston nennt) mit Titeln überhäufen, ohne die Stabilität der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.
Das Aufregende bei Marlowe ist seine offenkundige Zwiegespaltenheit. Nach allem, was man über diesen Autor weiß, war er selbst homosexuell. Sein Stück lässt denn auch große Sympathien für den Titelhelden erkennen. Zugleich aber war Marlowe ein Kind seiner Zeit. Das individuelle Glücksstreben auf Kosten des Gemeinwohls lässt er Edward bei allem Verständnis für dessen Neigung nicht durchgehen. Dieser König muss untergehen, um die aus den Fugen geratene Welt wieder einzurenken.
Ein bigottes Pack von Peers
Bei Stückl ist das alles weniger schillernd, dafür durchaus schrill. Ein schwarzes Metallgerippe, das immer wieder neonpink aufleuchtet (Ausstattung Stefan Hageneier), beherrscht die Bühne und lässt an einen edlen Käfig denken, in dem Edward gefangen ist. Adel und Klerus um ihn herum tragen eine Kombi aus Slimfit-Mode und Halskrausen-Garderobe, ebenfalls in kräftigem Pink. So wirken sie trotz der schmallippigen Stocksteifheit, die sie in Körperhaltung und Mienenspiel ausstrahlen, selbst latent queer. Ein bigottes Pack von Peers, das Stückl anfangs um einen leeren Thron gruppiert. Dann lässt die Drehbühne den Herrschersitz im Halbdunkel verschwinden und rotiert eine von Schaum überquellende Badewanne in den Vordergrund, darin der König – Jan Meeno Jürgens in der Titelrolle als lockenköpfiger Lookalike des bayerischen Märchenmonarchen Ludwig II – platschend mit seinem Toyboy, Alexandros Koutsoulis’ Gaveston als optischer Andy-Warhol-Wiedergänger mit entsprechend blonder Mähne. Jürgens ist ein melancholischer Herzkönig, Koutsoulis ein vibrierendes Energiebündel. Stückl schlägt sich eindeutig auf die Seite dieses Nonkonformisten-Duos. Von Marlowes Ambivalenz bleibt da nicht viel. Das ist ein bisschen schade, andererseits aber absolut logisch aus heutiger liberaler Sicht. Eine Gesellschaftsordnung, die auf starren Hierarchien und Diskriminierung Homosexueller gründet, stellt selbstredend kein zu verteidigendes Ideal mehr dar.
Stückls Schaumpartyhengste erlebt man jedenfalls zu keinem Moment als dekadent. Wiewohl der Regisseur um die Assoziationen weiß, die einem bei Badewannen in den Sinn kommen können. Bei einer Baustellenbegehung des Volkstheaterneubaus im Herbst 2020 witzelte Stückl, er fühle sich „ein bisschen wie Tebartz-van Elst“. Dessen Badewanne im Designer-Schick als Herzstück seiner sündhaft überteuerten Limburger Luxusresidenz hatte ihm den zweifelhaften Titel „Protzbischof“ eingebracht.
Stückl kann sich den selbstironischen Vergleich leisten, weil er weiß, dass er mit seinem neuen Domizil in Wahrheit ganz anders dasteht. Gut 131 Millionen Euro hat es gekostet – keinen Deut mehr als ursprünglich veranschlagt. Auch die Bauzeit von drei Jahren wurde eingehalten. Trotz Lieferengpässen von Materialien in der Pandemie. Etwas Glück spielte dabei wohl auch eine Rolle. Der Neubau wurde begonnen, bevor die Corona-Krise zuschlug.
Die Idee für einen Theaterneubau war bereits vor gut zehn Jahren aufgekommen. Seit seiner Gründung 1983 war das Volkstheater in einer umgebauten Turnhalle untergebracht, die die Stadt nur angemietet hatte. Eine Art Behelfstheater ohne Schnürboden, Unter- oder Drehbühne. Und vor allem: zunehmend marode. 2010 wurde ein Sanierungsbedarf von cirka 50 Millionen Euro ermittelt. Ob die Stadt wirklich so viel Geld in eine Fremdimmobilie stecken will, fragte sich Stückl und warb damit im Stadtrat für die Alternative Neubau. Mit Erfolg, wie man heute weiß. Um einschätzen zu können, wie ungeheuer dieser Erfolg ist, muss man wissen, dass das Münchner Volkstheater kurz vor der Schließung stand, als Stückl es 2002 übernahm. Seine Vorvorgängerin Ruth Drexel hatte das Haus solide geführt, aber ihr Nachfolger Hanns Christian Müller binnen kürzester Zeit künstlerisch gründlich heruntergewirtschaftet. Noch ein Intendanten-Flop hätte das Aus besiegelt. Doch Stückl schaffte mit jungem Ensemble und Nachwuchsregiekräften die Trendwende. Das Münchner Volkstheater ist längst nicht mehr wegzudenken aus der Stadt, ein adäquates Domizil statt des bisherigen Dauerprovisoriums nun die logische Konsequenz.
Architektonisch fügt sich der Theaterneubau ins Schlachthofviertel durch das Sichtziegelmauerwerk der Außenwände ein, das auch in der Umgebungsbebauung vorherrscht. Eine künstlerische Antwort auf die Nachbarschaft bot indes die zweite Premiere am Eröffnungswochenende: Jessica Glauses Stückentwicklung „Unser Fleisch, unser Blut“, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Fleischkonsum. Die Regisseurin und Autorin hat dafür mit Bäuerinnen, Metzgern, Köchen und Tierärztinnen gesprochen und deren Statements verdichtet und für ein fünfköpfiges Ensemble aufbereitet, das sich immer wieder Tiermasken überzieht, um mal als Kuh, Ziege oder Hund über Tierhaltung, Schlachtung und Fleischpreise zu räsonieren, und natürlich auch aus multiplen menschlichen Perspektiven. Auf Basis sorgfältiger Recherche arbeitet sich Glause an den komplexen moralischen Fragen ab, die sich stellen, wenn Menschen Tiere zum Verzehr töten. Das Urteil überlässt sie jedoch dem Publikum. Leider findet sie keine zwingende künstlerische Form für das dokumentarische Material. Glause lässt ihre Darsteller mit überdimensionierten Weißwürsten wedeln und ein bisschen Kochstudio spielen. Über die brave Bebilderung geht das nicht hinaus. Ein redlicher, kein begeisternder Abend.
Doch zum Glück folgte ja noch eine dritte Premiere zum Auftakt: „Gymnasium“, klassifiziert von Bonn Park (Text und Regie) und Ben Roessler (Musik) als Highschool-Oper. Ein Singspiel mit herrlich bizarrem Humor über eine Schule am Fuße eines Vulkans, dessen Aschewolke den Himmel vernebelt – und offenkundig auch die Hirne der Menschen (siehe auch Stückabdruck ab Seite 57). Zentraler Ort der Meinungsbildung ist die Schultoilette, deren Wände mit Parolen beschmiert sind, die die Wirkung von Social-Media-Posts entfalten: Wenn die Mehrheit der Schulgemeinschaft „liked“, was da steht, werden entsprechende Tatsachen geschaffen. Das Klo als Epizentrum so manchen Shitstorms, der unweigerlich Opfer fordert, darunter eine Vulkanforscherin, deren wissenschaftliche Erkenntnisse im Klima gefühlter Wahrheit per se suspekt sind, weshalb sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Das Stück spielt sinnigerweise zugleich 1995 und im Spätmittelalter. Passend dazu hat Bonn Park den Schulkids, die er nach Stereotypen sortiert (die Nerds, die gemeinen Mädchen, die Athleten) abenteuerliche Namen wie Ashleygunde oder Joshphilius gegeben, in denen beide Zeitebenen verschmelzen. Die quietschbunten Kostüme von Leonie Falke, ein Mix aus Schuluniformen und Teenie-Mode samt Mittelalteranleihen, und die schmissige Musik von Ben Roessler dürften diese so listige wie lustige Parabel auf unser postfaktisches Zeitalter im Stil einer Highschoolkomödien-Parodie zum ersten Volkstheater-Hit an neuer Stätte machen.
Bei „Gymnasium“ fand auch gleich mal der Orchestergraben Verwendung, der sich im Neubau öffnen lässt, und in „Edward II.“ kreiste unermüdlich die Drehbühne. So wurde das erste Wochenende zur Demonstration, was das neue Haus alles kann. Einziger Wermutstropfen: Die Akustik im großen Saal ist nicht optimal. Das Publikum der hinteren Reihen berichtete von Verständnisproblemen. Womöglich muss da noch nachgebessert werden, mit Akustiksegeln oder dergleichen.
Das aber konnte die Stimmung vorerst so wenig trüben wie die ungewissen finanziellen Aussichten. Das Volkstheater ist gewachsen – räumlich und personell. Der Finanzbedarf ist daher fast doppelt so hoch wie bisher, wurde von der Stadt aber nur auf etwa das Anderthalbfache angehoben. In der ersten Spielzeit, versichert Intendant Stückl, käme man dennoch gut über die Runden. Denn im Lockdown, als der Betrieb brachlag, wurde Geld gespart, mit dem sich nun Löcher stopfen lassen. Wie es dagegen in der nächsten Spielzeit weitergeht, ist noch offen. Man mag hoffen, dass das neue Theater dann nicht zur teils leerstehenden schönen Hülle verkommt, weil die Mittel fehlen, es voll zu bespielen.
Zur Eröffnung aber war erst mal „Full House“ und ausgelassene Freude angesagt. Alle Plätze voll besetzt, dank „3 G plus“-Regelung sogar ohne Maskenpflicht, Premierenfeier mit DJ und Konzert – ganz so wie in präpandemischen Zeiten. Schier unglaublich. Zu später Stunde rückte dann noch die Polizei an, allerdings nicht, um Verstöße gegen Corona-Auflagen zu unterbinden, sondern wegen Beschwerden von Anwohnern über den Premierenpartylärm, der auch ihnen unüberhörbar deutlich machte, was Christian Stückl verkündet hatte: „Jetzt samma da!“ //
„Gymnasium“ von Bonn Park finden Sie als Stückabdruck auf Seite 57 ff.