Theater der Zeit

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Feldforschung als Performance – Performance als Feldforschung

Ein Interview mit Flinn Works, dem Jungen Ensemble Stuttgart (JES) und dem Citizen.KANE.Kollektiv (CKK)

von Claus Michael Six

Erschienen in: Recherchen 147: Res publica Europa – Networking the performing arts in a future Europe (05/2019)

Assoziationen: Debatte Kinder- & Jugendtheater Freie Szene

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Mit Global Belly und Girls Boys Love Cash waren zwei Stücke auf dem IETM-Festival 2018 in München vertreten, die ihre Performances auf umfassende und intensive Recherchen fußen. In Global Belly bereitet Flinn Works (Berlin/Kassel) nach eingehenden Forschungen das Thema „globalisierte Leihmutterschaft“ auf, das Junge Ensemble Stuttgart (JES) präsentiert zusammen mit dem Citizen.KANE.Kollektiv (Stuttgart) seine zweijährige Feldforschung zum Thema „sex work“ im Raum Stuttgart und in Bukarest/Rumänien. Performances mit einer derart intensiven und Zeit beanspruchenden Vorarbeit wären an institutionellen Theatern kaum denkbar, die freie Szene aber kämpft um finanzielle Unterstützung jenseits von Kurzförderprojekten.

Ein Interview mit den Machern von Global Belly und Girls Boys Love Cash: Sophia Stepf (Flinn Works; Regie) sowie Lucia Kramer (Junges Ensemble Stuttgart; Dramaturgie) und dem Citizen.KANE.Kollektiv (Stuttgart):

Wie gestaltete sich für Global Belly und Girls Boys Love Cash der umfängliche und rechercheintensive Produktionsprozess: von der Teambildung, der Arbeitsplanung bis hin zu den Reisen, dem Auswerten der Ergebnisse und der Erarbeitung der Performance?

Flinn Works: Wir haben eng mit der Ethnologin Anika König (Universität Luzern) zusammengearbeitet und bereits bei der Konzeption gemerkt, dass wir nach Indien, in die USA und die Ukraine müssen. Das Team kannte sich teilweise schon und wusste, wie so eine Recherche verläuft. Grundsätzlich ist uns klar, dass Personen mit Beziehung zum Land dort recherchieren müssen. Sonata (die folgenden Genannten sind die Performer*innen des Stücks, Anm. d. Verf.) als Inderin, die Hindi spricht, konnte also nur Indien erforschen, Lea Whitcher ist Halbamerikanerin und war deshalb für die USA zuständig, Philine Rinnert (Bühne) spricht Russisch und kennt Kiew und ist mit einem Team nach Kiew gereist. Sonata und ich (Sophia Stepf, Regie) waren zusammen in Indien, Lisa Stepf (Dramaturgie) war mit in der Ukraine, Lea Whitcher, mit der wir zum dritten Mal zusammengearbeitet haben und die auch die Recherchemethoden kannte, war privat und alleine in den USA. Ich war mit Anika König bei einer Konferenz in Paris zu Leihmutterschaft und habe dort fast alle Wissenschaftler*innen getroffen, die zu dem Thema arbeiten und publizieren. Das Material war ausufernd und komplex – wir haben zu Probenbeginn zwei Wochen mit Referaten von den jeweiligen Recherchen verbracht und mit dem Lesen grundlegender Texte. Daraus destillieren wir die wichtigsten Positionen, die wir dann in subjektive Monologe/Szenen und diskursive Teile (Beginn, Feminismus-Debatte und Zeitstrahl am Ende) formen. Wir recherchieren fast immer ausgiebig:

1. Wir lesen wissenschaftliche Texte und Bücher zum Thema.

2. Wir treffen betroffene Personen und führen Interviews mit ihnen.

3. Die Performer*innen betreiben eigene Feldforschung.

Die Feldforschung kann ganz persönlich und sehr unterschiedlich aussehen – z. B. haben sich einige von uns als echte Fälle in den Kliniken für Leihmutterschaft vorgestellt. Sonata hat in Indien circa 72 Leihmütter interviewt, um für sich die Frage zu beantworten: Ist Leihmutterschaft Ausbeutung oder auch Emanzipation? Lea Whitcher hat eine Leihmutter getroffen, um sie genauer porträtieren zu können. Matthias Renger hat sich mit schwulen Paaren in Berlin getroffen und aus unterschiedlichen Interviews seine Rolle zusammengebaut.

JES/Citizen.KANE.Kollektiv: Keine 200 Meter trennt das JES in Stuttgart von dem hiesigen Rotlichtmilieu. Das war unser Anreiz für die intensive Auseinandersetzung zum Thema „sex work“ und die Idee für Girls Boys Love Cash. Wir fanden das enge, aber nicht unmittelbare Aufeinandertreffen zweier Parallelwelten spannend – die Welt der Jugendlichen, die sich im JES treffen, und die Welt der quasi gleichaltrigen Sex-Arbeiter*innen, die in Stuttgart mitten in der Stadt ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die Initialidee ging dabei vom Regisseur des Stücks aus, Christian Müller, der als Teil des CKK zuvor auch im JES gearbeitet hat und dort mit der Produktion Hardcore Research 14+ das Thema „Pornographie und Sexualität“ mit Jugendlichen erarbeitet hat. Wichtig war es für die Beteiligten darüber hinaus, kein Stück über Prostitution per se zu machen, sondern das Thema „Mensch als Ware“ aufzugreifen, um Antworten auf die Frage „Was ist der Mensch in der neoliberalen Gesellschaft?“ zu finden, die Erzählung also eher von einer Metaebene aus zu beleuchten.

Im ersten Jahr erforschten das JES und das Kollektiv gemeinsam mit zwölf Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Raum Stuttgart und traten dabei mit unterschiedlichen Personen in Kontakt, von Sozialarbeiter*innen, Sex-Arbeiter*innen bis hin zum gesprächsbereiten Bordellbesitzer aus dem Leonhardsviertel. Am Ende des ersten Jahres entstanden zwei Aufführungen, eine Werkschau in einem Stuttgarter Tabledance-Etablissement und ein Stationen-Theater (Unterm Strich).

Im zweiten Teil der Produktion reisten die Beteiligten (sieben Künstler*innen des Kollektivs, neun Jugendliche und zwei Mitarbeiter*innen des JES) für eine Woche nach Bukarest, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Dabei konsultierten wir nationale Institutionen der AIDS-Prävention oder machten uns mit einer begleiteten „street work tour“ in die entsprechenden Viertel auf. Besonders intensiv war der Kontakt mit den Lebensumständen marginalisierter Gruppen in Bukarest und in den Roma-Dörfern, wo wir einige sehr persönliche Interviews führten, beispielsweise mit einer Sex-Arbeiterin, die wir später per Video-Installation in Girls Boys Love Cash zu Wort kommen ließen. Großer Dank gilt hier unserer Videokünstlerin Cinty Ionescu, die uns in Rumänien auch als Dolmetscherin begleitet hat, ohne sie hätten wir sicher nicht den gleichen Zugang zu den Menschen bekommen.

Für die anstehende Theateraufführung hatten wir also reichlich Material gesammelt. Die Erarbeitung des Stücks und die Proben liefen dabei außerhalb der Herangehensweise eines „klassischen“ Theaterstücks ab: Wir ließen das Stück sich durch unsere unterschiedlichen Vorschläge und Ideen und durch viel Improvisation und intensive Diskussionen entwickeln.

Die Realisierung von Projekten in der freien Szene geht auch immer mit der Frage einher, ob und in welchem Umfang Fördergelder für das Projekt bereitgestellt wurden. Wie verhielt es sich bei der jeweiligen Produktion?

Flinn Works: Produktion ist das A und O. Die langfristige Recherche konnte nur teilweise durch die Projektgelder realisiert werden, da die Förderzeiträume sich immer nur auf das aktuelle Jahr beziehen. Es ist ein großes Manko der aktuellen Förderlandschaft, dass lange Recherche-Zeiten in den Förderinstrumenten nicht bedacht werden, aber das ändert sich langsam. So vergibt z. B. das Land Berlin Recherchestipendien, und der Fonds Darstellende Künste hat die „Initialförderung“ eingeführt. So haben wir im Juni 2017 begonnen zu proben, aber erst im März/April 2017 die Zusage des Hessischen Ministeriums gehabt, d. h. die Recherchereisen mussten daher anders abgerechnet werden.

JES/Citizen.KANE.Kollektiv: Umgesetzt wurde die Zusammenarbeit zwischen dem JES und dem Kollektiv im Rahmen eines zweijährigen „Doppelpass-Projekts“, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Beim „Fonds Doppelpass“ handelt es sich um die Förderung von länger angelegten Kooperationen zwischen einem festen Haus und einer freien Gruppe. Weitere Förderer: die Ott-Goebel-Jugendstiftung und die Martin-Schmälzle-Stiftung.

Sehen „Freie Performancegruppen“ – wie Flinn Works oder das Citizen. KANE.Kollektiv – ihre Möglichkeiten der künstlerischen Gestaltung, der „künstlerischen Freiheit“, als unabhängiger/freier/breiter an als beispielsweise die eines institutionellen Theaters?

Flinn Works: Ja – wir produzieren prekärer, mit viel weniger Geld, dafür haben wir mehr Freiheiten, die wir mögen und zu schätzen wissen. Die Finanzierung für die freie Szene muss sich aber verbessern und an die Budgets der Stadttheater angeglichen werden. Besonders hart war das im Fall von Global Belly zu spüren, da eine der Schauspielerinnen in dem Jahr der Produktion schwanger wurde und dadurch, dass sie bei uns so schlecht verdient hat, auch ihr Elterngeld entsprechend niedrig ausgefallen ist im Folgejahr. Sowas ist eigentlich nicht tragbar und bereitet mir politische Bauchschmerzen.

JES: Natürlich erfordert ein Haus wie das JES, mit dreißig festen Mitarbeiter*innen und einem Repertoire-Betrieb, längere Planungsabläufe und mehr Struktur. Gerade hier ist die Zusammenarbeit mit einer freien Gruppe, in diesem Fall dem Citizen.KANE.Kollektiv, mit gewissen „Reibungspunkten“ in der Organisation verbunden. Kommunikation ist hier das A und O. Man muss Verständnis füreinander aufbringen und immer am Ball bleiben, sodass bei keiner Seite das Gefühl entsteht, übergangen zu werden. Und trotzdem sind wir für Kooperationsmodelle wie den „Doppelpass“ sehr offen, weil wir den künstlerischen Input von freien Gruppen, die mit ganz anderen Ansätzen an eine Theater-Produktion herangehen, sehr schätzen.

Citizen.KANE.Kollektiv: Am JES sind „klassische“ Produktionen von sechs bis acht Wochen Probezeit die Regel. Das Kollektiv hingegen arbeitet weniger produkt- bzw. lösungsorientiert, sondern rechercheorientiert. Auch was die strukturellen Abläufe und die zum Teil hierarchischen Gefälle in den Produktionen angeht, ist es beim CKK anders gestaltet: So übernimmt unser Regisseur Christian Müller bei Produktionen des CKK nicht die Rolle des „Chefs“, sondern eher eine Moderationsrolle. Bei der Koproduktion mit dem JES haben wir aber einen guten Weg gefunden, zusammenzuarbeiten. Vielleicht waren wir etwas „vorsichtiger“ als in unserer gewöhnlichen Herangehensweise (lacht). Ganz besonders wichtig ist für uns gegenseitiges Vertrauen – ein essenzieller Punkt, der auch in unserem „Manifest“ niedergeschrieben ist.

Wie viel Eigen-Investition, Kraft, Herz, jenseits von finanziellen Mitteln, steckt in Gobal Belly und Girls Boys Love Cash?

Flinn Works: Sehr, sehr viel.

JES/Citizen.KANE.Kollektiv: Mit der Premiere ging nach zwei Jahren Recherche und Zusammenarbeit ein großes Gefühl der Erleichterung und der Zufriedenheit einher. Der mutige Ansatz und das ungewöhnliche Thema werden im nächsten Jahr mit einer Einladung zum Theatertreffen „Augenblick mal!“ in Berlin belohnt, worüber sich alle Beteiligten sehr freuen.

Wie sieht das jeweilige Produktionsteam seine Stücke aus (rezeptions)ästhetischer Sicht, also hier die Verbindung aus wissenschaftlicher Forschung und Kunst? Welchem Mehrwert dient das Medium der Partizipation, dessen sich beide Produktionen bedienen?

Flinn Works: Unser wichtigstes Kriterium ist die Multiperspektivität. Wir möchten den Zuschauer*innen ein komplexes Thema eröffnen und sie zum Nachdenken anregen, ohne ihnen eine Meinung vorzusetzen. Wichtige Debatten und ernsthaftes Nachdenken entstehen aber nicht durch rein kognitive Auseinandersetzungen, sondern auch durch emotionale Eindrücke. Die Partizipation in Global Belly nimmt die ethnologische Methode der „Teilnehmenden Beobachtung“ als Ausgangspunkt und transferiert sie in die Theatersituation.

JES: Das JES steht für ein Theater, das aktuelle gesellschaftliche Diskurse für ein junges Publikum behandelt, immer geleitet von der Frage: „Wie wirkt sich dieses Thema auf die Lebensrealität junger Menschen aus?“ Die Auseinandersetzung mit Wissenschaft kann uns wichtige Impulse für den Entstehungsprozess unserer Stücke geben, die oft erst im Probenprozess und mit dem Ensemble entwickelt werden.

Citizen.KANE.Kollektiv: Deshalb haben wir die Teile des Stücks auch klar getrennt: Im 1. Teil Theater – die Gedanken und Lebenswelt eines jungen Mannes in der heutigen Gesellschaft – und im 2. Teil erzählen wir von den Recherchen der vergangenen zwei Jahre, in die Form einer Performance gepackt.

JES/Citizen.KANE.Kollektiv: Mit partizipativen Elementen in unserer Produktion Girls Boys Love Cash, die natürlich im Jugendtheater schon länger bekannt sind, lässt sich ein direkter Kontakt zum (jungen) Publikum herstellen. Während des Zuguckens sollen Fragen bei den Jugendlichen angeregt und reflektiert werden, die sie sich wohl im Alltag nicht stellen würden.

Vielen Dank an Flinn Works, das JES und das Citizen.KANE.Kollektiv.

Literaturhinweise:

Philippe Adair/Oksana Nezhyvenko: „Assessing How Large Is The Market For Prostitution In The European Union“, in: Éthique et Économique/Ethics and Economics 14 (2017), Issue 2, pp. 116–136, online unter: ethique-economique.net/Volume-14-Issue-2.html [letzter Zugriff 30.11.2018]

Thomas Fabian Eder/EAIPA (The European Association of Independent Performing Arts) (Hg.):

Introduction To The Independent Performing Arts In Europe. Eight European Performing Arts Stuctures At A Glance, Berlin 2018

Jen Harvie: Fair Play. Art, Performance And Neoliberalism, Basingstoke 2013

Heather Jacobson: Labor Of Love. Gestational Surrogacy And The Work Of Making Babies, New Brunswick/New Jersey/London 2016

Wolfgang Schneider: „Auf dem Weg zu einer Theaterlandschaft“, in: Manfred Brauneck/ITI Zentrum Deutschland (Hg.): Das Freie Theater im Europa der Gegenwart. Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik, Bielefeld 2016, S. 612–642

Internetauftritte der Beteiligten:

Flinn Works: flinnworks.de

Junges Ensemble Stuttgart: www.jes-stuttgart.de

Citizen.KANE.Kollektiv: citizenkane.de

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