Theater der Zeit

Zirkus, Theater und Spartendenken

Zur historisch gewachsenen unterschiedlichen Bewertung von Zirkus und Theater und ihre Auswirkung bis heute

von Mirjam Hildbrand

Erschienen in: Arbeitsbuch 2022: Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus (07/2022)

Assoziationen: Zirkus Europa

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Ab circa 1820 und bis in die 1910er Jahre hi­nein war der Zirkus in Deutschland äußerst erfolgreich. Die großen Zirkusgesellschaften spielten damals nicht etwa in Zelten, sondern in mächtigen Holzkonstruktionen oder in pompösen Gebäuden in den Stadtzentren. Diese Spielstätten verfügten mit über 3000 bis 5000 Plätzen über deutlich höhere Kapazitäten als die meisten Literaturtheater und Opernhäuser. Und die Zirkusaufführungen selbst bestanden nicht nur aus Nummernprogrammen, ­sondern besonders beliebt waren Zirkuspantomimen. Dabei handelte es sich um aufwendig ausgestattete Inszenierungen, in denen Akrobatik, Reitkunst, Clownerie u.s.w. mit Ballett, Musik und szenischem Spiel rund um ein Thema ineinander verflochten wurden. Diese theaterähnlichen Aufführungen begeisterten ein großes und sozial durchmischtes Publikum. Mit ihrer Aufführungspraxis und ihrem Erfolg wurden die Zirkusse von Vertreter:innen des bürgerlichen Bildungs- und Literaturtheaters sowie der Oper als bedrohliche Konkurrenz wahrgenommen. Daher wurden die Zirkuskünste von der entsprechenden Interessenvertretung über Jahrzehnte hinweg konsequent als kunstlos und niedrig sowie als kunst-, moral- und geschmackschä­digend verunglimpft und auch auf politischem Weg bekämpft. Mit Erfolg: Den Literaturtheater-Verbänden, darunter die bis heute bestehende Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) sowie der Deutsche Bühnen Verein (DBV), gelang es, über politische Fürsprecher Einfluss auf die bundesweit ­geltende, gewerbliche Theatergesetzgebung, auf ­entsprechende Verfügungen der Länder oder auch Steuer­verordnungen zu nehmen. So wurden die relevanten Regularien um 1900 zunehmend zulasten des Zirkus und anderen visuellen und/oder musikalischen Theaterformen verschärft. In den juristischen Texten kam es dabei zu einer hierarchischen Kategorisierung und sprachlichen Ausdifferenzierung verschiedener Theaterformen – die sogenannten Sparten oder Genres der Bühnenkünste.

Spuren der einst überaus erfolgreichen Zirkusunternehmen mit ihren prunkvollen Spielstätten und aufwendigen Inszenierungen finden sich im deutsch­sprachigen Raum kaum mehr. Und dass sich die Angehörigen von Literaturtheater und Oper damals durch den Erfolg der Zirkusse existenziell bedroht fühlten, ist nur noch schwer vorstellbar. Der Zirkus ist im deutschsprachigen Raum heute vor allen Dingen mit klischierten Vorstellungen und negativen Vorurteilen behaftet.1 Im Gegensatz zu dem, was man üblicherweise unter dem Begriff „Theater“ versteht, gilt der ­Zirkus gemeinhin nicht als Kunst, sondern allenfalls als sogenannt niedere Kunst oder pejorativ konnotiert als Unterhaltung und Gewerbe. Im 19. Jahrhundert besaßen jedoch alle Theaterformen Gewerbestatus. Lediglich die königlichen Bühnen waren keine gewerblichen Betriebe, sondern wurden aus den Kassen der Fürsten finanziert. Die Organisationen wie der DBV und die GDBA waren daher auch bemüht, das Literaturtheater als förderungswürdige Theaterkunst zu legitimieren. Vom verhassten gewerblichen „Geschäftstheater“ sollte es zum „Kulturtheater“ aufsteigen – auch mittels Abwertung anderer Theaterformen wie dem Zirkus.
Die erfolgreiche Lobbyarbeit mündete um 1918/1919 in der Ankunft des Literaturtheaters in der sogenannten Hochkultur als öffentlich subventionierte Bildungs- und Kulturinstitution. Das einzigartige Stadt- und Staatstheatersystem war etabliert, der Zirkus blieb Gewerbe.2

Das um 1900 verdichtete Spartendenken sowie das entsprechende Förderverständnis prägen – zumindest im deutschsprachigen Raum – auch heute noch die kulturpolitische Praxis. Förderungswürdig sind Theater­vorstellungen, auch jene der sogenannten freien Szene, nach wie vor nur dann, wenn sie einen Bildungsauftrag erfüllen – und sei es dadurch, dass ihnen eine inhaltliche oder gesellschaftliche Relevanz zugesprochen wird. Dem Zirkus wird diese in der Regel abgesprochen, und Zirkusproduktionen waren in Deutschland, Österreich und der Schweiz bislang von der Kulturförderung ausgeschlossen. Anders sieht die Situation in Frankreich aus. Hier veränderte sich die kulturpolitische Perspek­tive auf den Zirkus ab Ende der 1970er Jahre im Rahmen von Kulturerbe-Debatten und Diskussionen rund um die Erweiterung des Kulturbegriffs. So wurde der Zirkus, bis dahin Angelegenheit des Agrarministeriums, 1978 dem Zuständigkeitsbereich des Kultur­ministeriums zugeordnet. Dieser Entwicklung Rechnung tragend, wurden ab 1980 verschiedene Fördermaßnahmen ins Leben gerufen und staatliche Zirkusausbildungsstätten gegründet. In der Folge entstanden verschiedene, ­inzwischen international renommierte Zirkusfestivals, und auf den Spielplänen der Theater- beziehungsweise Gastspielhäuser stellen Zirkuspro­duktionen längst ­keine Ausnahme mehr dar.

Seit etwas mehr als zehn Jahren erfährt der sogenannte Neue oder Zeitgenössische Zirkus auch im deutschsprachigen Raum Aufschwung und Resonanz. Künstler:innen aus diesem Feld gründeten Festivals und Produktionsorte, schlossen sich zu Initiativen und Vereinigungen zusammen und begannen, auch auf politischer Ebene um symbolische sowie finanzielle Anerkennung für ihre Arbeit zu kämpfen. So gelten in manchen Bundesländern oder Kantonen zeitgenössische Zirkusproduktionen heute unter gewissen Bedingungen als förderungswürdig. Doch um die Förderung der Zirkuskünste zu legitimieren, lässt sich eine Abgren­zung nach altbekanntem Muster beobachten: Interessenvertretungen der freien Zirkusschaffenden schreiben sich nun in den, auf einem tradierten Kunstverständnis basierenden Aufwertungsdiskurs ein und werten damit – bewusst oder unbewusst – zugleich die sogenannt traditionelle oder klassische Zirkuspraxis ab. Und bei der Lobbyarbeit im Rahmen der kultur­politischen ­Gegebenheiten wird der Zeitgenössische Zirkus un­umgänglich als eigene Sparte gefestigt. Dies erscheint aus historischer Perspektive paradox, denn die Zirkuspraxis ist seit jeher hybrid und zeichnet sich immer schon durch eine Vereinigung von verschiedenen Künsten aus. So könnten heute gerade auch vom ­Bereich des Zirkus Diskussionen angeregt werden,
die das tradierte Spartendenken befragen und weg­weisende Impulse für die darstellenden Künste ins­gesamt setzen.

1 Vgl. Birgit Peter: „Geschmack und Vorurteil. Zirkus als Kunstform“, in Kunsthalle Wien (Hg.): Parallelwelt Zirkus, Wien und Nürnberg 2012, S. 70 – 84.

2 Weitere Ausführungen zum Thema: Mirjam Hildbrand: „Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen. Über die Aufwertung des ,Theaters‘ auf Kosten der zirzensischen Künste“, in: Forum Modernes Theater, 30. Jg. (2019),
H. 1+2, S. 19 – 33.

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