Stück
Sich lieben und sich freilassen
Die Autorin Lisa Krusche und der Uraufführungsregisseur Moritz Nikolaus Koch über „unsere anarchistischen herzen“ am Theater für Niedersachsen in Hildesheim Im Gespräch mit Lina Wölfel
von Lisa Krusche, Moritz Nikolaus Koch und Lina Wölfel
Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)
Assoziationen: Niedersachsen Dramatik TfN • Theater für Niedersachsen

Als ich den Roman und später die Stückfassung gelesen habe, da sind direkt bei der Personenliste Bilder in mir aufgeploppt, weil die Orte für mich, die ja gerade in Hildesheim ist, total greifbar sind. Welche Rolle spielt Hildesheim als Stadt für den Text?
Lisa Krusche: Ich glaube, die Entscheidung ist vor allem ex negativo gefallen, weil ich nicht wollte, dass die Geschichte in einer Großstadt spielt. Und vielleicht war es auch wichtig für mich, mir Hildesheim zu erschreiben, mich durch den Text in ein anderes Verhältnis zu der Stadt zu setzen. Ich könnte auch behaupten, dass ich das Randständige, das Unspektakuläre dieses Ortes mag. Mich zu fragen: Wie vergeht hier die Zeit? Welche Figuren prägen das Bild einer solchen Mittelstadt? Wie lebt man sich dort ein oder raus? Aber irgendwie kommt mir das schon überinterpretiert vor. So wichtig, so im Fokus meines Schreibens war der Handlungsort gar nicht.
Moritz Koch: Ich habe diese Fassung für die Hildesheimer Uraufführung geschrieben, da den Bezug herauszustreichen, wäre ja völliger Quatsch. Aber es war wichtig, dass wir Hildesheim den Hildesheimer:innen nicht bebildern, sondern dieses Modell Klein- oder eher Mittelstadt, wie Lisa sagt, als Kompressor für die Geschichten von Gwen und Charles nutzen.
Wir kennen alle drei die Orte aus dem Roman ziemlich gut. Was holt ihr euch denn am Kiosk von Sinan?
LK: Ich habe schon sehr früh meine Kiosk-Karriere begonnen. Früher habe ich in der Nähe gewohnt und mir dann immer die Wendy geholt. Mit meinem ersten Taschengeld.
MK: Ich habe auch mal an der Steingrube gewohnt und mir da wahrscheinlich hauptsächlich Bier geholt.
Für mich sind es tatsächlich die bunten Tüten, die total krass nach dem Aftershave vom Besitzer schmecken. Moritz, wie bist du denn daran gegangen, aus dem Roman, der ja echt dick ist, eine Stückfassung zu schreiben? Welche Herausforderungen hattest du dabei?
MK: Der Roman besteht aus 444 Seiten. Unsere Zielvorgabe waren 50 bis 60 Seiten Stückfassung, und das ist natürlich ultrahart. Ich habe es das Lieblingsstellen-Massaker genannt. Es ist grausam. Ich habe einfach angefangen und den Roman noch mal gelesen und mir alle Kapitel markiert, bei denen ich fand, dass sie auf jeden Fall Futter für eine Bühnenszene ergeben. Und am Ende hatte ich genau zwei Kapitel nicht markiert. Das hat also nichts gebracht. Und dann habe ich von vorne angefangen und bin einfach das ganze Ding nach meiner Grundidee in einer Bühnenfassung abgegangen, wissend, dass das alles viel zu viel ist. Ich war dann bei über 200 Seiten und wusste, ich muss morgen Abend wieder mehr raushauen. Mit der Fassung arbeite ich in den Proben tatsächlich auch noch, was eigentlich total fatal ist, weil ich dann immer wieder merke, wie viel ich rausnehmen musste. Im Nachhinein kann ich sagen, der Prozess war mehr eine Konzentration auf die Geschichten von Charles und Gwen. Leider ist sehr viel Schönes dabei rechts und links rausgeflogen.
Was war zum Beispiel so ein Darling, den du killen musstest?
MK: Naja, also eine Sache, die mir immer noch die ganze
Zeit leidtut, ist die WG in Heinde. Am Ende sind einfach alle Mitbewohner rausgeflogen und nur noch Missy ist übriggeblieben. Die natürlich auch Szenen von Fred und Gilda übernimmt. Die aber namentlich nur noch übrig sind, weil ich vergessen habe, sie in Missy umzubenennen, was manchmal vorkommt und die Schauspielerin, die Missy spielt, regelmäßig verwirrt.
Lisa, inwiefern warst du beteiligt an diesem Prozess?
LK: Moritz und ich haben vorher über den Roman gesprochen und zwischendurch auch mal telefoniert, wenn es von Moritz’ Seite Nachfragen gab. Ich hatte aber von Anfang an das Gefühl, dass ich das gut an Moritz abgeben kann. Und ich bin auch ganz froh, dass ich zum Beispiel nicht selbst meinen Text so stark zusammenstreichen musste.
MK: Die Hauptarbeit an meiner Fassung 1.0 habe ich in einem Schwung gemacht. Danach bin ich weggefahren und habe mich isoliert. Und dann habe ich Lisa immer mal angerufen, wenn ich Fragen hatte.
LK: Oder wenn dir ein Lektoratsfehler aufgefallen ist.
Wie verhalten sich Roman und Inszenierungsfassung jetzt zueinander?
MK: Ich finde, es ist eigentlich zu früh, das zu sagen. Die Fassung ist immer noch nicht fertig. Während der Proben merke ich auch, dass sich noch mal viel verändert. Wir haben auch schon wieder Bilder aufgemacht, die ich eigentlich rausgestrichen hatte. Der Roman ist der Roman und wir spielen einen Auszug. Eigentlich müssten wir das als Serie spielen in vielen episodischen Teilen.
LK: Ich empfinde die Stückfassung als etwas ganz Eigenständiges. Und das ist für mich auch das Besondere und das Schöne an diesem Prozess, dass jemand meinen Text nimmt, um damit künstlerisch zu arbeiten.
Welche Kraft liegt eurer Meinung nach in der Begegnung zwischen Gwen und Charles, der Beziehung der beiden zueinander, gerade in so einem Setting wie Hildesheim?
LK: Das arme Hildesheim, das muss alles auffangen.
Oder jede andere mögliche mittelgroße Stadt, die ähnlich funktioniert.
LK: Die Probleme und die Herausforderungen, mit denen Charles und Gwen konfrontiert sind, hängen aus meiner Sicht gar nicht in erster Linie mit Hildesheim oder dem Kleinstädtischen zusammen. Sicher, es gibt diese gefühlte Enge der Stadt, und für Charles steht sie ja auch dafür, ihre gewohnte Umgebung und ihre Freund:innen verlassen zu müssen. Aber die beiden haben ja vor allem Probleme mit den jeweiligen Familien, mit sich selbst und dem Aufwachsen und Existieren in dieser Welt, in der wir leben.
Was meinst du mit „in dieser Welt, in der wir leben“?
LK: Ich meine diese kapitalistische, koloniale, patriarchale Welt – diese schlimmstmögliche aller Welten.
MK: Ja, ich glaube auch, das Kernproblem ist ja nicht Hildesheim, weder für Gwen noch Charles, auch wenn Letztere das vielleicht manchmal so formuliert. Gwen sagt relativ am Ende: „Ich sage dir was, ich bin froh, dass dein Vater durchgeknallt ist. Weil sonst wärst du nicht hier.“ Mir ging es beim Lesen des Romans so, dass ich die ganze Zeit darauf gewartet habe, dass die beiden sich treffen. Und wo das spielt, welche Psychologie des Ortes dahintersteckt, ist eigentlich egal. Die könnten sich auch in Berlin kennenlernen.
Inwiefern hat diese Begegnung ein revolutionäres Potenzial?
MK: Diese zwei Personen haben für sich schon ein ziemlich revolutionäres Potenzial, das ist ja auch das Schöne daran. Vor allem, wenn sie sich dann treffen. Als Duo sind die beiden einfach unschlagbar. Klar, sie werden keine Revolution im größeren Sinne vom Zaun brechen. Aber eine innere, alltägliche, ja.
LK: Ich merke, dass ich in diesem Kontext sehr zaghaft bin, was den Begriff des Revolutionären angeht. Vielleicht kann man es so sagen: Es ist ein Ort, an dem Selbsterfindung stattfinden und ein anderes Miteinander erprobt werden kann. Einander mit großer Offenheit begegnen, Zärtlichkeit praktizieren, mit gemeinsamen Fuck-ups die bestehende Ordnung stören. Es ist wohl auch so, dass ich ein sehr pessimistischer Mensch bin, insgesamt und was die Möglichkeit eines guten Lebens für alle angeht. Aber es gibt auch immer wieder die Erkenntnis, dass sich verwandt zu machen eine Entscheidung ist, in deren Bewegung und Handlungen aufeinander zu doch so etwas wie Hoffnung liegt.
Und trotzdem hast du ein Buch über die Kraft von solchen Begegnungsorten geschrieben. Wenn du so eine Pessimistin wärest, hättest du dann dieses Buch geschrieben?
LK: Das ist eine gute Frage. Das Schreiben, insbesondere von Romanen, setzt immer auch das Glauben an ein Morgen voraus. Allein schon wegen dieses langen Prozesses, es behauptet immer ein Weiter oder den Glauben an ein Weiter. Vielleicht hast du mich da ertappt und bin gar nicht so pessimistisch.
MK: Gerade diese Forderung, eine andere Form von Liebe zu leben, ohne Anspruch, finde ich enorm revolutionär. Dass die offenbar in der Lage sind, einander freizulassen. Also sich lieben und sich freilassen.
Du, Lisa, hast im Roman sehr viel mit artifiziell anmutenden Texten gearbeitet. Gerade die Twitter- und Songtexte. Welche Funktion haben die Texte für dich in deinem Roman?
LK: Da gibt es einmal die digitale Kommunikation, die über Messenger stattfindet. Das war für mich vor allem formal interessant, weil man die Möglichkeit hat, andauernd diese andere Ebene mitlaufen zu lassen und immer wieder Dialoge einzustreuen. Gwens Twitter-Texte lese ich als einerseits auch als eine Praxis der Selbsterfindung, die eigene Realität mit andauernden Metakommentaren zu begleiten und gleichzeitig in eine stumme Echokammer hineinzuschreiben, auch von Gwens Einsamkeit. Und ich glaube, grundsätzlich habe ich ein großes Interesse an etwas, das man grob als Künstlichkeit bezeichnen kann, als das Artifizielle, Hochgetunte, als Bubblegum-Ästhetik vielleicht auch.
Moritz, wie gehst du gerade mit diesen Passagen und dem Wechsel zwischen den verschiedenen Sprachebenen auf der Bühne um?
MK: Ich mochte das beim Lesen des Romans schon total gerne. Und jetzt ergeben diese Texte enorm spannende Synergien mit dem Zusammenstreichen des Romans für die Bühne. Es wird vermieden, was oft im Erzähltheater passiert, dass jemand vor sich hin erzählt und nicht wirklich viel mehr auf der Bühne passiert. Hier haben wir unglaublich schnelle Wechsel, die mit vielen Assoziationen aufgeladen sind. Wenn zum Beispiel Mo gerade ein Meme schickt, dann kann Mo auch auf die Bühne geflogen kommen und ist selber das Meme. Da haben wir keine Verständnisprobleme. Dadurch entstehen clipartige Sequenzen, die ich allgemein sehr spannend als Bühnenästhetik finde.
Du arbeitest auch immer wieder mit Musik in deinen Stücken. Welche Rolle spielt Musik für dich auf der Bühne und welche Funktion kann sie übernehmen, auch jetzt konkret in Bezug auf „unsere anarchistischen herzen“?
MK: Ich nutze Musik sehr gerne auf der Bühne als emotionalen Geschmacksverstärker. Alles fühlt sich doller an mit Musik. Und das kann man sich im Theater wahnsinnig gut zunutze machen – vor allem als Livegeschehen, das dann, so wie ich mit Musik arbeite, auch weil es live produziert wird, auf die Energien des Abends und des Publikums reagieren kann. Auf der Bühne finde ich es besonders interessant, die Musik mit den Texten zu verweben, wenn die Musik als emotionale Ebene mitredet. Ich sag´ immer, dass die Musik wie ein:e Dialogpartner:in funktioniert. Oft hört man von Regisseur:innen als Spieler:in: „Setzt euch nicht auf die Musik, sonst doppelt sich das.“ Ich sage den Spieler:innen immer: „Setzt euch volle Kanne auf die Musik, so richtig breit, und nehmt sie mit.“ Und dadurch, dass man im Gegenteil zum Film nicht behaupten muss, dass man die Musik nicht hört, kann man sie auch in das Erzählprinzip mit einbinden. Also wenn jetzt eine Sommersequenz erzählt wird und es darum geht, wie die Sonne vom Himmel brennt, dann kann man auch sagen: Hört ihr, wie es klingt?
Das Stück „unsere anarchistischen herzen“ können Sie hier lesen.