Protagonisten
Du sollst dir ein Bildnis machen …
von dieser Emanzipation: „Lulu“ in Zeiten von #MeToo in Wilhelmshaven und Bremen
von Jens Fischer
Erschienen in: Theater der Zeit: Umkämpfte Vielfalt – Das Theater und die AfD (04/2019)
Assoziationen: Akteure Theater Bremen Landesbühne Niedersachsen Nord
Die Angstlust des Mannes vor der begehrenden Frau wird Gestalt im „Urweib“ als „wildem Tier“. So wie Frank Wedekind seine Lulu in der schwül temperierten „Monstertragödie“ wider die wilhelminische Heuchlermoral entwarf. Eine Femme fatale der vorletzten Jahrhundertwende, undomestiziert, unwiderstehlich, ungezügelt – Unheil bringend. In den Hirnen des Stückpersonals irrlichtert sie als Ausbund fataler Weiblichkeit, bedroht also das klassische Geschlechterbild von männlicher Dominanz – und regt die derart Verunsicherten an, Macht über Lulu zu gewinnen, also Gewalt auszuüben. Das zu tun, was dank der längst überfälligen #MeToo-Debatte mal wieder grundsätzlich angeprangert wird. Nicht um dummdösige Verfehlungen einiger widerlicher Machos geht es, sondern um alltägliche Anzüglichkeiten, die ein Klima schaffen für verbal grobe Belästigungen, dreiste Berührungen, rohe Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen. So scheint es heute unmöglich, zumindest am politisch sensiblen Stadttheater, Wedekinds kerlig provokante Sicht zu reproduzieren, die sinnlich schillernde Lulu zur Täterin zu machen, die ihre ungezügelte Lebens- und Liebesgier befriedigt, während die kirre gemachten, übergriffig gewordenen Männer abwinken dürfen: Sie seien ja auch nur aus Fleisch und Blut. Diese Perspektive verschwand allerdings bereits im vergangenen Jahrhundert von deutschen Bühnen. Regisseure entwerfen vielmehr Sittenbilder der Entwürdigung und Verdinglichung als Ausdruck sozialer Kräfteverhältnisse. Lulu ist Opfer einer patriarchal verkorksten Welt – und mutiert zu ihrem wesenlosen Symbol. Als Ausgeburt real existierender Männerfantasien und damit auch als Verweis auf ein gesellschaftlich weiterhin virulentes Frauenbild. Um jedweder Anfeindung vorzubeugen, damit gemeinsame Sache zu machen, erlebt die erotische Inszenierung des Lulu-Körpers – ihre ungehemmt ausgelebte Sexualität, alles, was sie an- und zu Tode treibt – geradezu ein Bilderverbot. Lulu anno 2019 ist eine Gedankenfigur für Sexismus-Diskurse.
Die düster rockballadeske Überschreibung des Stoffes mit 18 Songs der britischen Band The Tiger Lillies ist für Armin Petras der Ausgangspunkt seiner Text- und karnevalesken Bildassoziationen, die er nach der Stuttgarter Premiere 2017 mit Schauspielern des Theaters Bremen neu inszeniert hat. Hauptdarstellerin bleibt Sandra Gerling. Ihre Lulu lungert schon beim Einlass um Besucher herum, macht mit absichtsvoll beiläufigen Gesten ihren Job als gelangweilt frivole Animateurin deutlich. Emotional unbeteiligt wirkt sie, als wäre dies die hundertste Vorstellung ihrer Show, Stereotypen der Lulu-Rezeption zu reanimieren. Als kennte sie keinen anderen Umgang mit sich, als zur Verfügung zu stehen als Geliebte, Kunstobjekt, Modeaccessoire oder Mutterersatz. Warum? „Sell your body … show your legs and show your tits!“, wird Lulu angesungen und wendet sich mit angeekeltem Blick ab. Petras zeigt, dass ihr Vater sie bereits so gesehen hat und an ihr herumgrabbelte … später wird sie von diesen Erfahrungen in Märchenform erzählen – anhand von „Allerleirauh“ der Brüder Grimm. Ja, es war einmal ein zudringlicher König, der seine Tochter heiraten wollte. Kindesmissbrauch. Lulu versucht sich anschließend zu recken und zu strecken und robbt dann wie querschnittsgelähmt über den Boden. Traumatisiert startet sie ins Leben und unterwirft sich prompt mit rot transparentem Tüllkleid den Anforderungen des männlichen Blicks, rückt einem Lutscher mit Oralsexpraktiken zu Leibe, rekelt ihren Körper als Warenangebot auf einem Stuhl. Die affektgesteuerten Mannsbilder werden da schnell zu notgeilen Tieren, die Lulu auf allen vieren umhecheln, übelst chauvinistische Comedy-Scherze kommen genauso zu Gehör wie frauenverachtende Gangsta-Rap-Reime. Lulu verkriecht sich zunehmend an den Rand des Geschehens, das aus Liedersingen und Showtanzeinlagen schrill herausgeputzter Glitzervögel des Nachtlebens besteht. So erklärt Petras, dass Lulu im Varieté-Tohuwabohu nicht um Freiheit und Selbstbestimmung kämpft. Nicht handelt, nur missmutig hinnimmt, Sexobjekt zu sein. Wenn die Inszenierung nicht so Revue-trubelig banalisierend daherkäme, wäre eine zeitgemäß psychologische Fokussierung des Stoffes zu loben.
Auch an der Landesbühne Nord in Wilhelmshaven, wo eine Kurzfassung des Wedekind-Textes Premiere feierte, bleibt Lulu (Anna Gesewsky) unerlöst. Empfangen wird das Publikum mit Kabarett zu aktuellen Genderdebatten, das in der naiven Frage mündet: „Was ist eigentlich so schlimm daran, ein Mädchen ein Mädchen sein zu lassen?“ Lulu ist als solches nicht erzogen worden, also unwissend offen für alles. In Unterwäsche und mit angedeuteter Clownsschminke steht sie da. Nicht anzüglich, einfach noch nicht fertig angezogen. Und wenn sie sich für den Straßenstrich einen Leopardenfellmantel überstreift, hat das auch nichts Nuttiges. Wirkt eher so, als hätte ein Kind sich mal im Kleiderschrank der Mutter bedient. Zum Ausprobieren von Zuschreibungen, die aber nie passen. Ihre angeblich „Morgenfrische“ ausstrahlenden Haare sind ungepflegt strähnig, ihre angeblich lasziven Blicke kommen aus übernächtigt geschminkten Augen. „Sie beschämen die kühnste Fantasie“, sagt einer der alten weißen Männer, wenn sie somnambul durch einen Bilderrahmen stiert. „Ich will zum Anbeißen sein“, lautet ihre Schlussfolgerung aus den männlichen Einflüsterungen. Woraufhin Uwe Cramer seine Inszenierung mit höchst affektiertem Spiel zur Farce übers rastlose Experimentieren mit Rollenklischees stylt. Den Unterschied zwischen würdevoll und würdelos kennt Lulu dabei nicht, schämt sich nie. Will schließlich gepeitscht werden, wird von hinten genommen und schreit: „Ich bin eine Frau.“ Ihr Überwältiger gibt sich enttäuscht: „Du spürst nichts.“ Ja, diese Lulu verheddert sich auf der Suche nach geschlechtlicher Identität. Die ja auch nur eine „kulturelle Konstruktion“ sei, wie ihr verkündet wird. Die angesprochene Frigidität scheint bitteres Zeichen des Scheiterns zu sein. Die ganze Aufführung eine ohnmächtige Bestandsaufnahme des Kriegs der Geschlechter, zwischen denen kein freies Kräftemessen von Begierde und Abhängigkeiten möglich ist. Da die Regie offenbar anderes intendierte, wird auch mal die Regenbogenfahne geschwenkt.
Marco Štormans Lulu-Adaption mittels der Alban-Berg-Oper entzaubert am Theater Bremen den Opfermythos wieder. Indem die Protagonistin antizipiert, für Männer als Projektionsfläche ihrer Wünsche, nur in all diesen Möglichkeitsformen real zu sein, spielt sie dieses Wissen zu ihren Gunsten aus und ist am Ende die Einzige, die aufrecht und quietschfidel auf der Bühne steht. Nur einen Widersacher hat sie in diesem Zwölftonklangwunderwerk: Dr. Schön. Er ist einer von uns, kommt aus dem Parkett auf die Bühne, ein Durchschnittsbiedermann. Alle anderen Figuren sind ebenso gekleidete Alter Egos oder Variationen des Männerstereotyps, jede gibt ihrer blind begehrten Lulu einen eigenen Vor- oder Kosenamen. Die Drehbühne bringt Bewegung ins groteske Spiel – indem sie ein kaleidoskopartiges Spiegelkabinett rotieren lässt, in dem die Männer den Abbildern Lulus als Visionen der Ideale von Weiblichkeit hinterherirren und sich dabei verirren. Lulu streift ein puschelig weißes Gewand über und ist damit Objekt der Lüste. „Durch dein Kleid empfinde ich deinen Wuchs wie Musik“, wie ein Anbeter formuliert. Ja, von der unschuldig süßen Kindfrau über die Grande Dame bis zum unersättlichen Raubtier ist in dieser Aufmachung alles vorstellbar. Für Lulu selbst interessiert sich niemand. Seifenblasen der Illusion begleiten die Chimäre. „Ich habe nie etwas anderes scheinen wollen, als wofür andere mich gehalten haben“, gibt Lulu zu. All das durchschauend, kann sie selbst die Fäden der Verführung in der Hand und die Männer in Abhängigkeit halten. Was auf Dauer aber auch keinen Spaß macht. Lulu entledigt sich ihres Betörungszaubertextils und reicht es an einen Tänzer weiter. Nun wird der von den Männern angeschmachtet. Sie ist raus aus der Nummer. Im zweiten Akt wird die Bühneninstallation zurückgebaut, im dritten Akt sind nur noch Gestänge zu sehen. Eingeschweißt in Plastikfolie steht Lulu da, zieht Hose und Jackett darüber. Über Leichen gegangen ist sie, hat sich zunehmend den männlichen Zugriffen entzogen und Autonomie gewonnen. Jetzt erfindet sie sich selbst. Ein starkes Stück. Saustark konsequent die Inszenierung. Und Sängerdarstellerin Marysol Schalit bietet eine ganz starke Rollengestaltung. Du sollst dir ein Bildnis machen von dieser Emanzipation. //