Theater der Zeit

Theater der Themen und Formate

Zum Beispiel das HAU

von Katrin Dod, Kirsten Hehmeyer und Matthias Pees

Erschienen in: Arbeitsbuch 2012: Import Export – Arbeitsbuch zum HAU Berlin (05/2012)

Assoziationen: Berlin Freie Szene Hebbel am Ufer (HAU)

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Mittlerweile winken sie einem ja aus vielen Ecken entgegen, die internationalen Festivals fürs Zeitgenössische in Performance, Theater, Tanz und Design. Mehr noch: Ein ganzes Netzwerk aus Produktionshäusern und Plattformen hat sich gespannt, die freiem Theater aus dem In- und Ausland, verschiedensten Performanceund Diskursformaten, Interventionen im öffentlichen Raum, In stallationen aus den Schnittmengen der Kunstgenres, dokumentarischem, partizipatorischem und postmigrantischem Theater eine Heimat geben. Zugegeben: Im Verhältnis zur Opulenz und Massivität der Institutionen von Repräsentations- und Hochkultur mag dieses Netz noch sehr klein und aus dünnen Fäden gesponnen sein, und seine Knotenpunkte sind bislang fragil und prekär geblieben, was die finanzielle Ausstattung von Programm- und Produktionsarbeit und die soziale Ab sicherung der Künstler angeht. Doch die Stigmatisierung und Peripherisierung als „freie Szene“ haben fast alle außerhalb der Stadttheaterstruktur tätigen Künstler hinter sich gelassen. Die ästhetischen Grenzen sind durchlässiger geworden. Die Frage nach dem Wo und Wie der Produktion, der Recherchen, Proben und Aufführungen ist mittlerweile eine fallweise, keine Grundsatzfrage mehr oder gar ein ideologisches Problem. Ob in einem Produktionshaus oder am Stadttheater, in „freier Wildbahn“, im geregelten öffentlichen Raum oder auch an einem Goethe-Institut irgendwo draußen in der Welt gearbeitet wird; ob mit einem festen Produktionsetat, Fehlbetragsfördermitteln oder zu frei ausgehandelten Regiegagen; ob mit freiberuflichen oder „festen“ Akteuren, Bürgern, Laien oder „Experten des Alltags“ – die sehr deutsch(sprachig)e Kategorie eines „freien Theaters“ wird langsam überwunden, die freie Szene ist selten nur noch ein Kampfbegriff.

Heute verhandeln wir ein Theater der Themen und der neuen Formate, das sich wie ein Pilz oder Virus subversiv hineinfrisst in vorhandene Strukturen und Kunstapparate, der Programmmacher und Künstler aller Kategorien infiziert – und dem doch eindeutige Ansteckungsquellen zuzuordnen sind: zum Beispiel das HAU. Dieses begann in der jetzigen Form vor neun Jahren bereits selbst als Hybrid, als die Berliner Senatskulturverwaltung für den neu zu berufenden künstlerischen Leiter Matthias Lilienthal die drei Kreuzberger (Off-)Spielstätten Hebbel-Theater, Theater am Halleschen Ufer und Theater am Ufer zu einem Theaterkombinat zusammenlegte. Ohne die kontinuierliche Unterstützung der damals noch recht jungen kulturellen Projektförderinstitutionen des Bundes und des Landes Berlin wäre das Vorhaben nicht realisierbar gewesen. Das HAU wurde zum besonderen Ort dieser Weiterentwicklung und Umorientierung des deutschen und internationalen Theaters, begünstigt auch durch verschiedene äußere Faktoren: durch seine besondere Lage in Berlin, die Anziehungskraft der Stadt und seine oft überregionale Wahrnehmung; durch ein überdurchschnittlich zahlreiches interkulturelles Publikum, die vielen Subkulturen und internationalen (Künstler-)Communitys; durch das Vorhandensein eines Hauptstadtkulturfonds und den Ausbau der Basisförderungen des Berliner Senats und vieles mehr. So wurde das HAU zur Speerspitze und zum Identifikationspol dieses neuen Theaters der Themen und Formate; für manche Zeitgenossen gar zum Sehnsuchts- und Zufluchtsort. Oder schlicht: zum Kult. So wie er in den neunziger Jahren kein Buch über postdramatische Theaterformen ohne das Frankfurter TAT und Tom Stromberg hätte schreiben können, sagt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, so könne man heute kaum einen richtigen Blick auf die Entwicklungsdynamik der Theatersprachen gewinnen ohne das HAU und Matthias Lilienthal.

Matthias Lilienthal ist ein exponierter deutscher Theatermacher, ein Trüffelschwein und ein Platzhirsch, ein Polemiker und unbedingter Realist. Ihm ist die Vision oder zumindest die Ahnung, was das HAU im Besonderen und Theater morgen im Allgemeinen vielleicht einmal sein könnte, durchaus persönlich in die Schuhe zu schieben; die Lust auf das Risiko und das Neue, Andere, Unausprobierte ebenso wie die Freude am Feixen, Polemisieren und Polarisieren. Sein vermeintlich simples Credo hat zwei Ausrufezeichen: „Keine Kunstkacke! Nur Realitätskacke!“ Eins ist Matthias Lilienthal dabei jedoch sicher nicht: ein Einzelkämpfer. „Sein“ HAU war Teamarbeit, sein Team selbst ein hierarchisch extrem flaches, eitelkeitstechnisch unaufgeregtes und in der Breite und Tiefe sehr kompetentes Netzwerk aus festangestellten Kollaborateuren, freien Kuratoren und Dramaturgen, Denkern, Scouts und institutionellen Partnern. Dass dabei „inhaltliches“ Arbeiten in den Bereichen Programm und Öffentlichkeit nicht als „höherwertig“, unabhängiger und freier angesehen wurde denn technisches oder administratives, spürte jeder, der mit dem HAU zu tun bekam: Hier arbeiten selbst in der Verwaltung schlicht die coolsten Leute, die Autonomie und Selbstorganisation der Technik der drei HAU-Häuser (plus all der projektweisen Außenspielorte) ist legendär. Und dass es kaum eine Aufgabe gibt, für die die ProduktionsleiterInnen des HAU nicht eine Lösung „heranarbeiten“ könnten – zwischen Visumsbeschaffung, Heuschreckenzucht und Teleshopping-Kundenbetreuung –, hat jedes Regieteam zu schätzen gewusst.

Natürlich aber wäre dieses HAU nichts ohne die Künstler, die hier gelegentlich, immer wieder oder dauerhaft arbeiten, unabhängig von der Frage ihrer ästhetischen und nationalen Herkunft. Viele von ihnen nutzen das HAU als „Brutstätte“ oder zur Weiterentwicklung ihrer Methoden und künstlerischen Arbeitsweisen; anderen ist es ein wichtiger, vertrauter und windgeschützter Hafen und dennoch relevanter „Umschlagplatz“ auf dem internationalen Performing-Arts-Markt, und manche produzieren von hier aus, in eigenen Büros und mit Unterstützung der HAU-eigenen Infrastruktur. Künstler, Dramaturgen, Denker und beobachtende Begleiter des HAU kommen deshalb in diesem Arbeitsbuch zu Wort, und gerade weil sie in ihren Äußerungen oft ins Unreine sprechen, ist dieses Arbeitsbuch zum HAU eben kein Rückschauheft geworden, sondern tatsächlich eine Art Handbuch und Sammelband über die Arbeitsweisen, Strategien und Problematiken, Glücks- und Zufälle eines zeitgenössischen Theaters der Themen und neuen Formate, ein Panorama von heutigem und zukünftigem Schaffen und (Er-)Finden, Programmieren und Ermöglichen. Zum Beispiel am HAU.

Viel Spaß beim Lesen wünschen die Herausgeber und die Redaktion

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