Theater der Zeit

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Auftritt

Salzburger Festspiele: Ein langer Marsch durch die Finsternis

„Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing – Regie und Bühne Ulrich Rasche, Komposition Nico van Wersch, Kostüme Sara Schwartz, Chorleitung Toni Jessen

von Otto Paul Burkhardt

Erschienen in: Theater der Zeit: Queeres Theater – Romeo Castellucci — Die Mysterien von Eleusis (09/2023)

Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Ulrich Rasche Valery Tscheplanowa Salzburger Festspiele

Nathan der Weise bei den Salzburger Festspielen 2023: Nicola Mastroberardino (Sultan Saladin), Valery Tscheplanowa (Nathan).
Nathan der Weise bei den Salzburger Festspielen 2023: Nicola Mastroberardino (Sultan Saladin), Valery Tscheplanowa (Nathan).Foto: SF/Monika Rittershaus

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Schwarze Leere, fahles Licht: Menschen im Halbdunkel. Sie schreiten in ruhigem Tempo gegen den Lauf der Drehbühne, treten somit auf der Stelle. Und sie deklamieren den Text im langsamen Geh-Rhythmus, mit regelmäßigen Pausen, oft chorisch. Die Sätze fließen nicht, sie kommen nur stockend voran, wie eben erst entwickelt. Das zwingt zum Zuhören. Es wird ein langer, fast vierstündiger Marsch durch die Finsternis. Ulrich Rasche, verantwortlich für Regie und Bühne, hat bei den Salzburger Festspielen Lessings „Nathan der Weise“ inszeniert – viele würden sagen: erwartbar. Bei Aischylos‘ Klagepoem „Die Perser“, Rasches Debüt 2018 in Salzburg, hat sein formstrenger Oratorien-Stil funktioniert. Doch klappt das auch bei „Nathan“ (1779), dem Paradestück der Aufklärung? Soviel vorweg: Es ist erstaunlich, welche Varianzfülle dieser Regisseur seinem scheinbar übersichtlichen Personalstil immer wieder abzutrotzen vermag.

Der dringliche Tonfall, die Kraft des uniform gekleideten Kollektivs, der konstante Groove der Sprache und noch dazu der spacige Live-Sound mit Keyboard und dumpf pochenden Trommeln – Rasche, der auch „Nathan“ in Crescendowellen, Abbrüche und Neuansätze gliedert, ist Überwältigungsstratege. Wiederentdeckung der Langsamkeit? Renaissance des Pathetischen? Slo-Mo-Rap im Theater? Auch im Salzburger „Nathan“ ist jene Sogwirkung spürbar, von der manche schwärmen. Wir sehen keine Rollenspiele, sondern ein postdramatisches Oratorium – Sprache fast pur, rhythmisch und nonstop „en marche“, zwischen kreisenden Riesensäulen und Neonstelen, vor blassen Lichtwänden, in waberndem Nebel.

Eigentlich müsste der Titel des Lessing-Klassikers in Rasches Regie auf „Nathan die Weise“ nachjustiert werden. Denn vom Konzept her war klar: Kein alter weißer Mann, sondern eine Frau sollte in der Titelrolle agieren. Zwar nicht als Nathanja. Doch die Durchlässigkeit von Geschlechterzuschreibungen war stets ein Akzent, mit dem die scheidende Schauspielchefin Bettina Hering seit 2017 frischen Wind in die stagnierende Theatersparte des Festivals brachte. Nach der krankheitsbedingten Absage von Judith Engel übernahm Valery Tscheplanowa die Nathan-Partie – drei Wochen vor der Premiere. Bemerkenswert, wie sie sich in ein bestehendes Konzept nahtlos integriert und dabei noch eigene Akzente setzt: mit klarer, unprätentiöser Diktion. Sie ist die Vermittlerin, das Energiezentrum der Inszenierung.

Präsentiert wird Lessings „Dramatisches Gedicht“ in einer stark gekürzten Fassung, die sich aber paradoxerweise durch die Zerdehnung des Textes enorm in die Länge zieht. Das hat auch etwas Quälendes. Aber es korreliert mit Rasches Intention. Denn sein „Nathan“-Extrakt kondensiert Passagen, in denen Antisemitismus, Intoleranz und religiöser Hass im Vordergrund stehen. Lessing verortet das Stück im Mittelalter der Kreuzzüge. Rasche weitet den Blick, lässt die Dialektik der Aufklärung, Holocaust und Hetzparolen von heute als mitzudenkende Fortsetzungen, als unheilvolle Prophetien des „Nathan“-Stoffes, mitschwingen: unausgesprochen. Explizit jedoch spielt Rasche auf den von Hannah Arendt thematisierten Konnex zwischen Aufklärung und Antisemitismus an und fügt entsprechende Zitate von Johann Gottlieb Fichte, Kant und Voltaire ein.

So wirkt dieser „Nathan“ denn auch wie ein Passionsweg, wie ein nicht enden wollender Gang durchs Dunkel der Inhumanität. Das Auf-der-Stelle-Treten spiegelt Geschichtsskepsis, es reflektiert das Kein-bisschen-Weiterkommen der Menschheit in Sachen Intoleranz – ein sisyphusartiges Grundgefühl von Vergeblichkeit.

Das Problem ist, dass der rhythmische Feierlichkeits-Tonfall in Permanenz hier alles einebnet. Ringparabel und Dialoge, innere Kämpfe und komplizierte Enthüllungen von Verwandtschaftsgraden – im Dauer-Pathos klingt das alles ähnlich. Selbst Beiläufiges kommt so seltsam aufgeblasen daher. Auch der Erkenntnismehrwert der monotonen Choreographie-Optik flaut im Verlauf merklich ab. „Nathan“ als Hörspiel? Zudem: Was in Rasches düsterem Konzentrat kaum Platz findet, ist die Helligkeit, die Argumentierfreude, der Gedankenwitz, die Streitlust, das Heitere im „Nathan“.

Moralpredigthaftes bleibt außen vor. Die Ringparabel, Nathans Plädoyer für Toleranz unter den damals drei großen Weltreligionen, ist in Rasches Lessing-Version nicht nur ein weises Versöhnungsgleichnis, sondern auch eine dringend notwendige Überlebensmaßnahme, eine Selbstrettung Nathans aus der Todesgefahr, in die ihn das lebensbedrohliche Verhör durch Sultan Saladin gebracht hat. Die Parabel ist keine nur schöngeistige Märchenutopie, sondern der einzige pragmatische Ausweg aus ewigen kriegerischen Konflikten: „Wir müssen, müssen Freunde sein.“ Rasches Regie macht deutlich, dass hier ein Mensch spricht, dessen Familie bei einem von Christen verübten Pogrom komplett ausgelöscht wurde. Und die etwas langatmige Enthüllung der aberwitzigen Verwandtschaftsverhältnisse demonstriert vor allem eins: Wie sicher geglaubte Identitäten sich plötzlich als Täuschung entpuppen.

Das Ensemble schreitet streng koordiniert, teils wie in Trance, durch das Stück: etwa der nur firnishaft milde Saladin (Nicola Mastroberardino), der leicht entflammbare Tempelherr (Mehmet Ateşçi), Nathans zunehmend selbstbewusste Ziehtochter Recha (Julia Windischbauer) und Saladins nüchterne Schwester Sittah (Almut Zilcher).

Klar, das von Lessing geforderte Finale mit „stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen“ ist mit dem heutigen Wissen in ungebrochener Form kaum mehr darstellbar. Und angesichts der aufgedeckten Verwandtschaftsverbindungen der Christen und Muslime zeigt Rasche, wie der Jude Nathan wieder ganz allein dasteht, seiner Angehörigen beraubt, ständig gefährdet und nur geduldet. Ambivalent auch der Schluss: Valery Tscheplanowa rekapituliert die Essenz der Ringparabel, nunmehr getaucht in warmes rotes Licht. Indem sie den zugehörigen Ruf „Zu Hilf‘!“ wiederholt – leise, zweifelnd und mit dem ganzen Horror der Geschichte als Echoraum, geht Rasches Konzept dann doch auf: Lessings „Nathan“, verdichtet als Leidensweg, als dunkler Lehrgang durch die nicht enden wollende Historie von Intoleranz und Hass.

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