Auftritt
Schauspiel Essen: Unnachgiebig behutsam
„Tabak oder warum Sie mit dem Frauen morden aufhören sollten“ von Rachel J. Müller (UA) – Regie Lea Oltmanns, Bühne und Video Thorben Schumüller, Kostüme Bee Hartmann, Hannah Trakowski, Musik Greta Gottschalk
von Stefan Keim
Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Schauspiel Essen
Content Note: Diese Kritik thematisiert und beschreibt einen Femizid
Das Video zieht weiße Linien über den dunklen Gazevorhang. Sie ergeben ein Labyrinth. Dahinter ist ein orangefarbenes Glühen zu sehen. Es spricht: das Haus. Taubengrau, sechsstöckig. Mehrstimmig wie seine Bewohner:innen. Mit einer geflüstert-gewispert-geraunten Hörspielcollage beginnt die Uraufführung von „Tabak oder warum Sie mit dem Frauen morden aufhören sollten“ in der ADA, der winzigen Spielstätte im oberen Geschoss des Essener Grillo-Theaters.
Die Autorin Rachel J. Müller bezieht sich auf einen realen Femizid in Wien. Die 35-jährige Kioskbesitzerin – oder Trafikantin, wie man in Österreich sagt – Nadine W wurde im März 2021 von ihrem Ex-Partner geschlagen, gewürgt, mit Benzin übergossen und angezündet. So entsteht das Feuer, das die Bewohnerinnen des Hauses wahrnehmen, zunächst ohne sie wissen, was passiert ist. Der Ort des Geschehens im neunten Wiener Gemeindebezirk ist heute ein Ausstellungsraum. Rachel J. Müller war an einer Ausstellung über Nadine W beteiligt.
Die Gewalt gegen Frauen nimmt zu, sagt das Bundeskriminalamt in seiner Statistik für das Jahr 2023. Rachel J. Müller hat dennoch kein anklagendes Agitprop-Stück geschrieben. Sie nähert sich dem Thema langsam, leise, mit unnachgiebiger Behutsamkeit. Erst spricht das Haus – die Wände, die Rohre, die Leitungen bekommen eine Stimme. Dann kommen die Bewohnerinnen zu Wort, die sich zuerst nicht kennen. Auf der kleinen Bühne gibt es mehrere verschieden erhöhte Ebenen, angedeutete Stockwerke mit Sesseln und Stühlen. Effektiver als es Thorben Schumüller tut, kann man mit so einer winzigen Bühne kaum umgehen. Über das Feuer und den Mord, von dem sie durch Fernsehnachrichten erfahren, kommen die Frauen in Kontakt.
Bald verlassen sie die Bühne und gehen ins Publikum. Es gibt keinen direkten Kontakt zu den Zuschauenden, aber die körperliche Nähe zeigt, dass hier eine Öffnung stattfindet. Die Frauen reden miteinander, machen erste Schritte, um sich zu verbünden. Die Gewalt wird nicht gezeigt, es gibt nicht einmal einen Ansatz von Voyeurismus in Stück und Inszenierung. Sondern Irritation, Entsetzen, Erstarren und daraus folgend die Möglichkeit zu Solidarität.
„Tabak“ ist ein kunstvoll geschriebenes Stück, das Charaktere nur andeutet. Mehr Psychologisierung würde die Rollen berührender machen, allgemeiner gehalten stehen sie für viele. Das macht den Text vorhersehbar, und der Schluss ist ziemlich platt. Da vereinen sich die Frauen zu einer feministischen Kampftruppe, entwickeln aber dabei nur die Energie eines Prosecco-Kränzchens. Das Finale passt überhaupt nicht zum sensiblen, feinfühligen Gestus, den Stück und Aufführung zuvor hatten.
Dennoch überzeugt die Klarheit, mit der die junge Regisseurin Lea Oltmanns den nachdenklichen und vielschichtigen Text mit einem sehr konzentrierten Ensemble auf die Bühne bringt. Die Bilder entwickeln eine starke Atmosphäre, bleiben abstrakt, verharmlosen aber nichts. „Tabak“ könnte auch auf einer größeren Bühne funktionieren, in der kleinen Essener ADA haben Lea Oltmanns und ihr Team trotz der begrenzten Möglichkeiten zu einer überzeugenden Form gefunden.
Erschienen am 2.12.2024