Von der polnischen Tradition zur weltweiten Avantgarde und darüber hinaus – Jerzy Grotowski
von Dariusz Kosiński
Erschienen in: Wir haben es einfach gemacht! – Reisen in internationale Theaterwelten (07/2024)
Assoziationen: Europa Dossier: Polen

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde völlig unerwartet der polnische Einfluss auf das internationale experimentelle und forschende Theater zentral. Die Hauptverantwortlichen und Akteure dieses Phänomens waren zwei große Künstler und Neuerer: Tadeusz Kantor (1915–1990) und Jerzy Grotowski (1933–1999). Ersterer stand in der Tradition der europäischen visuellen und theatralen Avantgarde und entwickelte das ursprüngliche Projekt des „Theater des Todes“. Letzterer verdiente sich seinen Ruf als einer der größten Revolutionäre des Theaters nicht so sehr durch seine drei außerhalb Polens gezeigten Inszenierungen (Akropolis, Der standhafte Prinz, Apocalypsis Cum Figuris), sondern durch seine Arbeit mit Schauspielern, die in der „totalen Handlung“ und dem Konzept des „armen Theaters“ gipfelte, das er in einem der berühmtesten Theaterbücher seiner Zeit – Für ein armes Theater (1968) – vorstellte.
Sowohl Kantor als auch Grotowski wurden außerhalb Polens als außergewöhnlich originelle Künstler wahrgenommen, doch ihre Entwicklungen stammten weitgehend aus der spezifischen Tradition des polnischen Theaters. Einen ersten Höhepunkt erlebte das polnische Theater in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den Werken von Adam Mickiewicz (1798–1855) und Juliusz Słowacki (1809–1849). Obwohl beide Autoren nicht die Möglichkeit bekamen, ihre Stücke auf die Bühne zu bringen, legten sie mit ihren dramatischen Werken und ihren weitreichenden Ideen,...