Gespräch
Spuren legen
Muriel Gerstners Bühnen führen ein selbstbewusstes Eigenleben
von Muriel Gerstner und Judith Gerstenberg
Erschienen in: Arbeitsbuch: Bild der Bühne, Vol. 2 / Setting the Stage, Vol. 2 – 17 Bühnenbildner:innen im Porträt (06/2015)
Assoziationen: Kostüm und Bühne

Muriel Gerstner, Ihre Bühnenbilder sind dramaturgische Setzungen. Sie bestimmen die Richtung der Inszenierung weit über die Architektur, die die Spielfläche einfriedet, hinaus. Sie führen ein selbstbewusstes Eigenleben mit versteckten Botschaften.
Ich versuche, Räume zu schaffen, die offen sind für die Schwingungen einander überlagernder Bedeutungsebenen, damit sie miteinander in Korrespondenz treten.
Für Sebastian Nüblings Inszenierung von Henrik Ibsens „John Gabriel Borkman“ beispielsweise hat sich die Nähe zum im selben Jahr erschienenen „Dracula“ von Bram Stoker als ergiebig erwiesen. Diese beiden Texte wiederum treten in leidenschaftlichen Dialog mit den Vampirmetaphern, die Karl Marx entwirft, um Wirkungsweise und Wege des Kapitals zu beschreiben. Dieser Übergang ins Phantasmatische, der sich an die Figur des Vampirs heftet, hat wesentlich zur Bildfindung beigetragen.
Ein anderes Beispiel: Ein Bühnenbild für Karin Henkels „Elektra“-Inszenierung in Zürich reagierte darauf, dass es im Altgriechischen keine Vokabel für „Familie“ gibt, dafür aber viele verschiedene Bezeichnungen für „Haus“. Der große, immer wiederkehrende Topos in dem Stück lautet: das Haus der Atriden. Das Haus wird zum bildnerischen Ersatz für die Familie und lässt sich wunderbar aufladen mit der Definition, die Sigmund Freud für den psychischen Apparat im Allgemeinen entworfen hat: Er schlägt einen großen Raum des Unbewussten vor, in dem sich alle möglichen Vorstellungen und verdrängten Erinnerungen tummeln, zeitlich munter durcheinandergewirbelt. An diesen großen Raum, den ich mir vollkommen amorph vorstelle, schließt sich, allerdings getrennt durch eine gut bewachte Membran, der kleine Salon an, in dem Freud das Bewusstsein ansiedelt. Mit dieser Denkfigur im Kopf habe ich Karin Henkel dann vorgeschlagen, das immer wiederkehrende Bild des Hauses der Atriden wörtlich zu nehmen und die Erzählstränge zu parallelisieren: auf der einen Seite die Vorgeschichte Elektras im Hause der Atriden rund um die Opferung Iphigenies zu zeigen und auf der anderen Seite Elektras Jetztzeit, die wegen ihrer steten Klagen um den erschlagenen Vater des Hauses verwiesene Tochter.
So sah man dann auf der einen Seite der Schiffbau-Halle nur die Front eines Hauses mit Tür und Fenstern, in das die eine Figur, Elektra, nicht hineindarf, und auf der anderen Seite das Innenleben dieses Gebäudes, in dem die Zuschauer zu Zeugen der ganzen Vorgeschichte der Atriden inklusive der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra werden – eine Art Hinterland, wo man mit Zeitverschiebungen spielen konnte. Die Zuschauerinnen und Zuschauer saßen zu beiden Seiten, in der Pause wechselten sie die Plätze, die Spieler zeigten zweimal genau das Gleiche. Geräusche der jeweils anderen Seite, Einblicke und Durchsichten lösten sich nachträglich ein. Das Ganze las sich als großes Fragment, das die Zuschauer im Kopf zusammensetzen mussten, unabhängig davon, welchen Teil sie zuerst gesehen hatten.
Sprache ist ein großes Thema für Sie. In Ihrem Bühnenbild zu Simon Stephens’ „Pornographie“, einer Koproduktion zwischen Hamburger Schauspielhaus, dem Schauspiel Hannover und dem Festival Theaterformen, das die Anschläge auf die Londoner U-Bahn im Jahr 2005 verarbeitet, haben Sie sie explizit ins Zentrum gerückt.
Der Bühnenhorizont bestand aus Pieter Bruegels Gemälde „Turmbau zu Babel“ – und zwar als Puzzle, an dem die Spieler während der Vorstellung unablässig arbeiteten. Simon hatte seinen Text nach den sieben Lebensaltern gegliedert, wie Shakespeare sie in „As You Like It“ aufzählt, nämlich vom noch nicht sprechenden Kleinkind bis zum Greis, der die Sprache vergessen hat – und das hat mich an das Bilderrepertoire der manieristischen Maler wie Pieter Bruegel denken lassen, die sich in endlosen Varianten mit dem Turmbau zu Babel beschäftigt haben, dieser biblischen Geschichte, die ein so genaues Bild der Sprache als ewiger Baustelle entwirft. Ich habe gerade ein faszinierendes Buch von dem amerikanischen Psychoanalytiker Bruce Fink gelesen. Er beschreibt, wie das Kleinkind durch den Einfluss der elterlichen Sprache allmählich zum Subjekt wird: Wir werden von Anfang an in einer Sprache angesprochen, die zunächst einmal nicht unsere ist – und nie ganz sein wird. Sprache also als Erbschaft und als virale Infektion. Man lernt die Bedeutungen von den Eltern, der Umwelt. Der kleine menschliche Körper wird kultiviert durch die Sprache, die man in ihn einpflanzt, das heißt, jeder Mensch nimmt mit den Worten etwas in Gebrauch, das ein Eigenleben führt, Bedeutungsebenen transportiert, die wir nicht vollständig kontrollieren können. Und so ist es auch mit Bildern. Das spürbar zu halten, versuche ich in meinen Entwürfen.
In Ihren Bühnenbildern finden sich immer wieder Schriftzüge, Sätze, Objets trouvés, die nicht zwingend mit dem Bühnengeschehen in Verbindung stehen. Auch das sind Spuren, die Sie legen, Kassiber, die nur Kundige aufzulösen vermögen.
Ich bediene mich hier eines Prinzips des Barocks: Überschriften, die nicht in die vollständig gleiche Richtung weisen wie das Bild, sondern ein Dialogfeld aufmachen. Dadurch, dass man den Text nicht prima vista zuordnen kann, beginnt etwas zu oszillieren. Das hoffe ich zumindest.
Dass es nur wenige verstehen, nehmen Sie in Kauf?
Es geht ja um etwas Uneindeutiges, das sich bei mir verfangen hat und das ich weiterreichen möchte, ein Kommunikationsangebot. Das zeigt ja gerade die psychoanalytische Lektüre: Nichts lässt sich eindeutig bestimmen. Manchmal allerdings wäre ich gerne eindeutig.
Können Sie ein Beispiel geben?
Bei der Beschäftigung mit Elfriede Jelineks „Das schweigende Mädchen“, in dem es um den NSU-Prozess geht, habe ich aus einer ungeheuren Wut heraus entworfen – die Vorstellung, dass ich keinen Tag meines Lebens ohne das Bewusstsein um die fatalen Auswirkungen des „Dritten Reiches“ zugebracht habe und dann einzutauchen in diese unfassbare Geschichte um diese ideologisch verbrämte Mörderbande. Das einzige kreativ Verwertbare, wenn man so will, war ein Spiel, dass Zschäpe und Co. entworfen und zur Aufbesserung ihrer Finanzen in rechtsradikalen Kreisen vertrieben haben: Pogromly. Angelehnt an das ideologisch in jede Richtung aufladbare Monopoly wurden in Pogromly die Vorgaben verschoben, zum Beispiel die Städte judenfrei zu machen.
Ich habe Johan Simons vorgeschlagen, ebenfalls ein Zeichensystem zu etablieren. Mit unseren Parametern. Wir sind dann darauf gekommen, ein Spiel wie ein Ruinenfeld aufzubauen, das im Hintergrund vor sich hindämmert, unbespielt, aber mit markanten Zeichen versehen. So wird die Bühne optisch dominiert vom „Erbschaftsamt“, an das jeder Spieler und Zuschauer (imaginär) seinen Tribut zahlen muss, denn die Geschichte des NSU kann man natürlich nicht entkoppeln von der Erbschaft, die uns die Nazis hinterlassen haben. Links und rechts sind ferner Häuschen postiert, die auf Elfriede Jelineks Lieblingsfeind Martin Heidegger verweisen und Seynshütte-Ost und -West heißen, weil Heidegger sich in der Hochzeit des nationalsozialistischen Terrors in seine Klause im Schwarzwald zurückzog, die er „Seynshütte“ nannte, und dort schöngeistige Texte verfasste, mit Einschüben, die an Blut-und-Boden-Literatur denken lassen. Während in Nürnberg die Rassengesetze verabschiedet wurden, reflektierte er über van Goghs Schuhgemälde und beschrieb dort die gediegene Schwere des Schuhzeugs, das klaglose Bangen um Brot, die entbehrungsreiche Welt der Bäuerin und so weiter.
An die Seynshütten gliedert sich deshalb auch ein Heimatgarten mit Heimaterde an, die dann im vorne stehenden Konservatorium kompostiert und zu Humus umgewandelt werden kann. Heideggers Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie ist ja gerade wieder deutlich in unser Bewusstsein gerückt.
So eindeutig baue ich sonst selten meine Bilder. Ironischerweise dachten die meisten Leute, wir übernehmen eins zu eins das Spiel in der Variante des NSU. So viel zur Eindeutigkeit.
Eingeladen, die Schweiz bei der 11. Prager Quadriennale 2007 zu vertreten, haben Sie sich entschieden, nicht Ihre Raumentwürfe zu dokumentieren, sondern ein eigenes Kunstobjekt zu schaffen. Warum?
Durch diese Einladung aufgefordert, grundsätzlich über Bühnenbild und meine Rolle als Gestalterin nachzudenken, schien es mir langweilig, einfach Modelle vergangener Produktionen auszustellen. Mir geht es darum, dem Schöpfungsprozess auf die Spur zu kommen, der ein gemeinsamer ist. Wir alle – in diesem Falle die Mitglieder eines Produktionsteams – fungieren als Dolmetscher für den Text. Für die archäologische Arbeit, die eigentlich jede Beschäftigung mit einem Text begleitet, habe ich eine Visualisierung gesucht. Im Prinzip auch eine Visualisierung für meine Beschäftigung mit dem Bild von Sprache als ewiger Baustelle. Ausgangslage war, dass es ohne Sprache auch keinen Bau geben kann. So habe ich zwei Freunde eingeladen, Texte zu schreiben, die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen und den Autor Händl Klaus. Um dieses Schreiben herum habe ich eine Geschichte der Rekonstruktion und Spurensuche etabliert, der man in einem begehbaren, aber verlassenen Raum nachgehen kann. Mich hat besonders interessiert, eine theatrale Erfahrung in Abwesenheit der Protagonisten auszulösen, nur durch im Raum ausgelegte Spuren mögliche Narrative herzustellen. //