Thema
Den Massenmord denken
von Alain Badiou
Erschienen in: Theater der Zeit: Am Nullpunkt – Alain Badiou, Philippe Quesne, Joël Pommerat, Du Zieu (01/2016)
Assoziationen: Europa Debatte Wissenschaft Akteure
Zehn Tage nach dem Pariser Terroranschlag vom 13. November 2015 hielt der französische Philosoph Alain Badiou im Pariser Vorort Aubervilliers am Theater La Commune – Centre dramatique national eine Sondervorlesung. Darin untersucht er das Geschehen, das er als eines der zahlreichen Symptome der „ernsten Krankheit“ Kapitalismus beschreibt, an der unsere gegenwärtige Welt leide. Wir drucken die einleitenden Worte dieser Vorlesung, in der Badiou die Risiken für eine von Trauma und Affekt beherrschte Gesellschaft beschreibt, wie er sie in den unmittelbaren Reaktionen auf die Attentate beobachtet.
Ich möchte heute Abend darüber sprechen, was am Freitag, dem 13. November, passiert ist. Was uns passiert ist, dieser Stadt, diesem Land, letztendlich der Welt, in der wir leben.
Lassen Sie mich zunächst etwas dazu sagen, in welchem état d’esprit, in welcher inneren Disposition, man meiner Meinung nach über diese schreckliche Tragödie sprechen sollte. Denn eines ist offensichtlich, jedem bewusst und wird von den Medien und den Autoritäten auf gefährliche Weise immer wieder betont: Der Impuls des Affekts, der gefühlsbestimmten Reaktion, ist in Situationen wie dieser unvermeidbar und in gewissem Sinne auch unumgänglich. Es besteht derzeit so etwas wie ein Trauma, ein Gefühl der unzumutbaren Ausnahme von der Alltagsordnung, des Einbruchs von Tod in...