Theater der Zeit

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Auftritt

Münchner Kammerspiele: Lokalgeschichte meets historische Schuld

„Zeit ohne Gefühle“ von Lena Gorelik (UA) – Idee und Regie Christine Umpfenbach, Bühne Nuphar Barkol, Kostüme Pascale Martin, Live-Musik Manuela Rzytki, Video Patrik Thomas

von Sabine Leucht

Assoziationen: Theaterkritiken Bayern Dossier: Uraufführungen Christine Umpfenbach Münchner Kammerspiele

Das Vergangene vergeht nicht: „Zeit ohne Gefühle“ von Lena Gorelik in der Regie von Christine Umpfenbach an den Kammerspielen München.
Das Vergangene vergeht nicht: „Zeit ohne Gefühle“ von Lena Gorelik in der Regie von Christine Umpfenbach an den Kammerspielen München.Foto: Julian Baumann

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„Können Sie noch? Ist nicht leicht, diese schweren Geschichten zu hören, ich weiß. Wir nähern uns aber der Stunde der Befreiung.“ Kaum hat Johanna Kappauf diese Sätze gesprochen, gehen vier Scheinwerfer über der Bühne der Therese-Giehse-Halle an und blenden die Zuschauer:innen. Sie werden durch unterschiedliche Mittel einbezogen in das Spiel, das die Geschichte jüdischer Holocaust-Überlebender ebenso beleuchten will wie die Unmöglichkeit, sich in sie hineinzuversetzen. Als Nachgeborene, als sich lückenhaft oder Lieber nicht-Erinnernde, als Schauspieler:innen.

Wie können wir diese „Zeit ohne Gefühle“ in unsere Zeit holen? Das ist eine der Leitfragen des gleichnamigen Theaterabends, mit dem die Münchner Kammerspiele den Themenschwerpunkt „Wohin jetzt?“ einläuten, der noch bis Mitte Dezember in Aufführungen, Lesungen, Führungen und Workshops nach dem jüdischen Leben in Deutschland seit 1945 fragt. Ein wichtiges Unterfangen, und die Eröffnungsinszenierung der Münchner Dokumentartheatermacherin Christine Umpfenbach wie der ihr zugrundeliegende Text der mehrfach preisgekrönten Autorin Lena Gorelik tragen nicht nur schwer an der Verantwortung dafür. Sie machen sie auch zum eigentlichen Thema des Abends. Die Verantwortung in erster Linie des Erzählens selbst, das sich immer wieder vergewissern muss, dass es lückenhaft und fehleranfällig ist und – sofern es einzelne Schicksale in den Mittelpunkt rückt – tausende andere exkludiert. Auch das versucht der Abend mitzubedenken und in ein Pars pro toto zu übersetzen. Sein Untertitel lautet „Eine Erzählung aus Feldafing über uns alle“. Und ja, Feldafing haben wir noch gar nicht erwähnt. Jenen malerischen Ort unweit von München, wo Promis schon zu Kaiserin Sisis Zeiten die Aussicht auf den Starnberger See genossen und die Nazis 1934 bis 1945 die „Reichsschule“ als Kader- und Charakterschmiede für die NS-Eliten unterhielten. Nach der „Befreiung“ durch die Alliierten am 30. April 1945 und bis ins Jahr 1953 hinein waren in denselben Gebäuden bis zu 6000 „Displaced Persons“ untergebracht. Zu ihnen gehörte auch der damals erst 15-jährige ungarische Jude Mordechai Teichner, dessen Mutter und Geschwister in Auschwitz und sein Vater in einem Außenlager des KZ Dachau ermodert wurden. Lange war Teichner nicht in Feldafing, aber die sogenannte „Stunde Null“ hat er dort erlebt. Und an diesem dünnen Verbindungsfaden hängt der Abend all seine Erzählstränge auf, in denen er sich mit den besten Absichten verheddert.

Das liegt am Ansatz und ist deshalb wohl zumindest teilweise Absicht, aber vielleicht auch ein bisschen an den unterschiedlichen Urheberschaften und Recherchesträngen. Da sind bis zu zehn Jahre zurückliegende Gespräche mit dem 2022 gestorbenen Mordechai Teichner selbst, einige Treffen mit dessen Sohn Meir, die historische Forschungen von Marita Krauss und Erich Kasberger zur Causa Feldafing und viele andere Stimmen und Quellen, denen Gorelik eine literarische Form zu geben versuchte und die Umpfenbach in ihren Arbeiten zur rechten Gewalt in Deutschland sonst meist selbst in eine Spielfassung überführt. Zusammen mit den Spielenden, die sich immer auch zu diesem collagierten Material verhalten. Hier springen fünf von ihnen in alle Rollen, deren Verteilung immer wieder diskutiert wird. Darüber beschwert sich Luis Brunner schon früh: „Ich mag diese Stellen nicht, wo wir so tun, als würden wir das verhandeln.“ Es sei doch längst klar, dass Konstantin Schumann den Mordechai spielt. Später wird der ihm die Rolle aber doch mal kurz abtreten, um in die eines prügelnden Täters zu schlüpfen, wonach Schumann vollkommen groggy freiwillig wieder die Opferrolle wählt. Walter Hess räsoniert darüber, dass er als alter Mann den heute 75-jährigen Meir spielen könnte und tut es dann auch. Etwas angestrengt wird so geklärt, dass das Theater und auch die Geschichte verschiedene Möglichkeiten für die Menschen bereithalten. Man kann das Lied der Hitlerjugend singen, trotz geltender Verbote weiterhin Juden bedienen oder die Augen vor allem verschließen. Man kann als Nicht-Jude einen Juden spielen und als Linker einen Nazi. „Jede:r kann jede:r sein. So ist das Leben“, ist gleich anfangs auf der Bühne zu lesen. Nur bei Josef Mengele weigern sich alle. Keiner will er sein. Keiner will ihn spielen. Auch eine Entscheidung!

Nuphar Barkols aus weißen Gebäudeumrissen bestehende Bühne dient in erster Linie als Projektionsfläche für historische Schwarz-weiß-Fotos aus den Lagern und wie nachkoloriert aussehende Videos des heutigen Feldafing in seiner ganzen Pracht. Dazwischen jonglieren die Schauspieler:innen mit Haltungen, Handlungsfetzen, Orten und Zeiten, zitieren alte und neue Rechte, sprechen überhaupt viel und agieren ein bisschen so, als gelte es Tretminen auszuweichen. Sich über das Spiel erschließende Szenen wie jene sind selten, in der Christian Löber erklärt, „ich mag diese Nazi-Sätze nicht mehr sagen“ und dabei mit den schweren Stiefeln kämpft, die an seinen Füßen zu kleben scheinen. Die Tretminen dagegen sind zahlreich: Die Reproduktion von Nazi-Sprache und Gewalt, die Gefahr, dass das Stück „antisemitisch gelesen werden“ könnte, wenn man darin auch den aktuellen Rechtsruck in Israel ansprechen will. Die aktuelle Identitätsdebatte spukt gleich auf mehreren Ebenen des Abends herum. Dürfen die Autorin und der bei der Premiere anwesende Meir Teichner Israel ermahnen, weil sie Juden sind? Und was ist mit uns und unserem „Nazihintergrund“? Wie lange hat man den eigentlich? Bis in welche Generation hinein?

Der ruhende Pol des Abends ist Johanna Kappauf als Erzählerin und Kommentatorin, die ihm mit ihrer sonst stets bestechenden Freundlichkeit und expliziten Artikulation einen noch didaktischeren Anstrich gibt. Als Auftaktveranstaltung für ein Themenfestival mag das angemessen sein. Als Theater aber ist „Zeit ohne Gefühle“ extrem unbefriedigend. Auch wenn nachvollziehbar ist, warum sich das Team bei diesem unverdaulichen Thema gegen eine Erzählweise sträubt, die einen ästhetischen und erzählerischen Sog entwickelt. Diese Diskussion kennt man ja seit Steven Spielbergs „Schindlers Liste“. Aber in einem derartigen Hickhack und so ganz ohne jeden Sog hat man als Zuschauer:in allzu viele Möglichkeiten, sich dem Grauen zu entziehen und Aufmerksamkeitshopping zu betreiben. Und das kann ja wirklich nicht gewollt sein. 

Erschienen am 5.11.2025

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