Theater der Zeit

Architektur gegen die Schwerkraft

von Stefanie Carp

Erschienen in: Starting over – Bühnenbilder, Konzepte / Stages, Concepts (05/2015)

Assoziationen: Kostüm und Bühne Barbara Ehnes Deutsches Theater (Berlin) Münchner Kammerspiele Schauspielhaus Hamburg Schauspielhaus Zürich

Architektur gegen die Schwerkraft
Architektur gegen die Schwerkraft

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Performerinnen und Performer fliegen durch die Luft, stehen aufgereiht in engen Kästen, hängen an Drähten, fahren in Maschinen, auf Wagen oder in beweglichen Möbeln, gleiten auf Schlittschuhen über Flächen. Böden heben sich zu Wänden, an denen Performer vertikal hinauflaufen, drehende Scheiben stellen sich auf, Spieler fallen, rutschen steile Schrägen hinab; Zuschauer sitzen in der Vertikale und sehen auf Spieler in die Tiefe. Für die Züricher Inszenierung von Shakespeares „Heinrich IV“ (Regie Stefan Pucher) lässt Barbara Ehnes Könige und Feldherren in Sesseln durch eine offene Halle fliegen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen in Etagen an den Wänden aufgestapelt, sehen Protagonisten vorbeischweben und unten auf der Erde wechselnde Landschaften und Schlachtfelder verschiedener Kriege. Räume schrumpfen ein, blähen auf oder stehen auf dem Kopf. Das Atelier des „Baumeister Solness“ in einer Inszenierung am Schauspiel Hannover faltet sich zusammen; sein Raum wird flacher, je höher er bauen will. Immer ist etwas in Bewegung in Barbara Ehnes’ Theaterräumen, und immer wird an der Schwerkraft laboriert, mit der die Menschen und Performer sich abmühen wie mit einem konfliktreichen Leben. Immer ist da ein Widerstand, der die Bewegungen der Körper verändert, einschränkt oder ungewollt beschleunigt. Für Meg Stuarts Inszenierung „Replacement“ an der Volksbühne in Berlin wird der Bühnenraum von einer sich drehenden Trommel ausgefüllt, in der Tänzerinnen und Tänzer gegen die Zumutungen der Schwerkraft kämpfen. Die Trommel erscheint als ein normaler Raum, teilweise möbliert, was den grotesken Effekt erhöht. Die Tänzer bewegen sich die Wände hinauf, benutzen die Decke des Zimmers wie dessen Boden, stürzen ab und bewegen sich weiter gegen die Drehung des Raumes. Eine Frage dieser Arbeit von Meg Stuart war, wie weit man gehen kann im Ausloten körperlicher Extreme und wie das darstellbar ist.

Wie weit man gehen kann, fragt Barbara Ehnes mit fast allen ihren Arbeiten. Was ist noch nicht ausprobiert worden? Wo ist ein Anfang? Sie benutzt gerne die Hydraulik und andere Bewegungsapparate, um einen Raum der Veränderung auszusetzen. Ihre Theaterräume erzeugen ungewohnte Perspektiven, bringen die Körper der Spieler in ein neues Verhältnis zu Räumen und Gegenständen, die Zuschauer in ein neues Verhältnis zur Bühne. Die Performer spielen zwischen den Zuschauern, unterhalb der Tribüne, umkreisen sie auf Rampen und Stegen, sind selten eingeschränkt auf einen eingerichteten und definierten Ort.

 

Es ist der Widerstand, der die Situation macht. Wie ein Mensch sich in einem Raum bewegt, von welchen Hindernissen seine Bewegung bestimmt wird, wie er durch die Veränderung des Raumes in eine neue Lage gebracht wird, der er sich anpassen muss, ob eine Person auf einer um dreißig Grad geneigten Schräge gehen kann oder ob die Protagonistinnen und Protagonisten, wie in dem Raum für Tschechows „Möwe“ am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Privatphilosophisches verhandeln und verbal Konflikte austragen, indem sie auf einer glatten Fläche Schlittschuh laufen – es erzählt jeweils von der spezifischen Existenz der Menschen in dieser Inszenierung, von verschiedenen Formen des Überlebens unter sich überraschend ändernden Bedingungen, unter der Hinnahme von Einschränkungen und mit allen Sinnestäuschungen, die zum Überleben dazugehören.

Barbara Ehnes schafft Räume, deren Veränderungen und Widerstände neue Spielsituationen erzeugen, die als menschliche Situationen erscheinen, immer bezogen auf einen Stoff, auf die thematische Vorgabe eines Textes oder einer Choreografie. Wie befinden sich die Menschen, die da gemeint sind, in der Welt, und welche Verbindungen haben die Zuschauerinnen und Zuschauer zu ihnen?

Das Konkrete

Die Raumerfindungen von Barbara Ehnes sind nie Milieu oder sozial- realistische Umgebung, sondern philosophische Gegenwärtigkeit von Lebensverhältnissen, ausgedrückt im ungewöhnlichen Verhältnis von Subjekten und Raum. Gleichzeitig sind ihre Räume oder Architekturen nicht wirklich abstrakt. Sie enthalten zitathaft konkrete Empirie. Spezielle Gegenstände, Materialien, Videobilder und Kostüme verweisen auf eine oder mehrere konkrete, künstliche und meist unerwartete Welten, als hätte eine der Personen auf der Bühne sie grade aus dem Netz gefischt oder als kämen die Bilder dieser Welten aus einer Mischung aus Filmzitaten, Design, Werbung, Unterhaltung, Popkultur und Elementen alltäglicher heutiger Wahrnehmung. Immer haben die konkreten Zitate Referenzen zu bekannten Bildern, zu Klischees oder Ikonen von geträumter Sozialität. Es sind Zitate von Metawelten, künstlich und gedeutet, in denen die Performerinnen und Performer nicht leben, sondern vor deren Flächen und vor deren Glanz sie agieren, auf deren Zombies oder Stars sie sich beziehen.

Die Konzeptionistin

Barbara Ehnes‘ Interesse und Movens als Bühnenbildnerin und Künstlerin ist ein Konzept-Fantasieren. Sie ist Konzeptionistin, nicht Stilistin. Deshalb beginnt sie als Künstlerin mit jedem Bühnenentwurf etwas Neues. Ihre Räume entstehen nicht aus der Weiterentwicklung eines vorigen. Sie sind immer eine neue und fordernde Erfindung, als könnte man immer alles neu und ganz anders denken und realisieren. „Alles auf Anfang“ ist ein Probenterminus, wenn auf der Bühne alles zurückgebaut wird auf das erste Bild oder einen leeren Raum. „Alles auf Anfang“ ist für Barbara Ehnes ein Leitmotiv jeder künstlerischen Überlegung, eine Forderung an sich selber als Künstlerin und an ihre künstlerischen Partner, keine Routine zu akzeptieren. Jedes Projekt muss behaupten, das erste zu sein. Ihre Theaterräume würden sich wahrscheinlich nicht als ein Ehnes-Stil mit hohem Wiederkennungswert beschreiben lassen. Man würde aber in allen ihren Theaterräumen eine Gedankenarchitektur finden als Frage und als Forderung, als Herausforderung an das Gegebene, formuliert in Bewegungen und Perspektiven. Die Veränderung aller Verhältnisse, das ist eine Wahrnehmung. Ein Wahrnehmungswunsch, alles, das nicht möglich scheint, auszuprobieren, ein Aufbrechenwollen in ganz andere Theaterformen, in denen die Grenzen zwischen Aufführung und Rezeption aufgehoben sind; die Lust auf neue Erfindungen unterliegt allen diesen Entwürfen, die sich an dem Vorgegebenen von Bühnen stoßen. Sie sind eine Aufforderung, sich zu ihnen zu verhalten, sie durch Benutzen zu verändern. Wenn für Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ die Züricher Schiffbauhalle in suprematistische Spiel- und Zuschauerflächen zerlegt wird, dann formuliert sich darin eine Aufbruchsidee für den Stoff und auch für das heutige Theater. Alles ist möglich, keine Fläche ist abschließend definiert, jeder Zuschauersitz kann zur Spielfläche werden. Es geht darum, eine Situation zu schaffen, aus der sich keiner raushalten kann, und diese Situation mit Erinnerung an Utopie aufzuladen.

Sinnestäuschung

Sinnestäuschung alleine gibt es nicht. Für Stefan Bachmanns Inszenierung „Der seidene Schuh“ in Basel erfindet Barbara Ehnes ein nachtblaues Welttheater-Gehäuse, das Zuschauer und Spieler umschließt für eine Reise durch viele Orte und Zeiten.

In einem Projekt über Hans Christian Andersen (Regie Stefan Pucher) in der klassischen Guckkastenbühne des Hamburger Thalia Theaters täuscht Barbara Ehnes die Sinne, um Offenheit und Veränderung zu erzeugen. Der Bühnenraum wird zum Trompe-l’Oeil. Hier spielt sie mit Perspektiven und Raumwirklichkeiten, verunsichert und irritiert die Wahrnehmung, die sich wiederum auf die Veränderungen von Wahrnehmung als Thema vieler Märchen bezieht. Der Raum ist in Wirklichkeit eine Fläche, die vergrößerte perspektivische Zeichnung eines Innenraumes aus der Andersen-Zeit, dessen Wände gepolstert sind und aus dem einzelne Teile von Möbeln dreidimensional herausragen. Durch Licht und Videoprojektionen in den Raum werden merkwürdige Tiefen- wirkungen und Größenverhältnisse suggeriert, die wie Träume der Figuren wirken.

Für ein „Quijote“-Projekt baut Barbara Ehnes Glasflächen, die Bilder spiegeln, die auf den Bühnenboden gemalt sind. In das gespiegelte Bild kann ein Spieler sich hineinstellen und sich so optisch mit etwas verbinden, das gar nicht da ist.

Genets „Zofen“ leben in einer geschlossenen Kapsel, die durch Videoprojektionen unerwartet ihre Dimensionen ändert – analog zu den wechselnden Machtstrukturen im Verhältnis der Figuren zueinander. Für eine Inszenierung der „Katze auf dem heißen Blechdach“ zerschneidet sie einen durchgebauten Raum in verschiedene Flächen, an denen teilweise Spiegel montiert sind, so dass in der Zusammenwirkung der Eindruck immer neuer Collagen entsteht, die aus verschiedenen Teilen verschiedener Häuser oder Lebensentwürfe, die nicht zueinander passen, zusammengesetzt sind. Die zu keiner Einheit sich fügenden Interieurs werden Ausdruck des Daseins und Befindens der Menschen, deren Leben keine verstehbare Verlässlichkeit mehr hat.

Für „Maß für Maß“ baut Barbara Ehnes die klassische Gassenbühne, in der sie aber die Soffitten als schräg gestellte Blenden verwendet, die unterschiedliche Räume in unterschiedlichen Tiefenstaffelungen öffnen und schließen können und deren schräg gestellte Kanten an Fallbeile oder Messer denken lassen. Der Raum realisiert das soziale Klima ständiger Bedrohung und undurchschaubarer Verhängnisse in einer von Intrige und Spionage geprägten Hierarchie.

Die Sinnestäuschungen, die Barbara Ehnes mit den Maschinen der Illusionsbühne herstellt, versinnbildlichen über optische Effekte die Abhängigkeitsstrukturen der Personen. Sie stellen das seltsame Innenleben der Bewohnerinnen und Bewohner durch seltsame Raumverhältnisse dar. In Stefan Puchers „Othello“-Inszenierung sieht der Zuschauer alles Geschehen durch eine ovale Öffnung in einer die Bühne verschließenden Wand. Hinter der Öffnung erscheinen Orte des Geschehens: ein Empfangsraum, eine künstliche Felslandschaft, die Dusche eines privaten Zimmers. Diese Orte werden auf einer Scheibe so gedreht, dass immer zwei angeschnittene Räume gleichzeitig sichtbar sind und dadurch Zwischenperspektiven entstehen und heimliche Beobachtungsorte ermöglicht werden. Für einen Stoff, in dem es um Intrige geht, macht ihre Bühne jeden Zuschauer zu Jago, der durch eine Öffnung etwas beobachtet und erlauscht, das er an einen anderen Ort weitertragen und transformieren könnte. Wenn der Manipulator Jago seine Pläne erläutert, steht er mit den Zuschauern vor der Wand.

In der „Sturm“-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen werden die kolonialen Räume auf Prosperos Insel aufgeblättert wie die Seiten eines Buches aus seiner Bibliothek. Die Wände dieser Bühnenkonstruktion können einzeln gesteuert fahren, so dass jeweils eine Wand das vorige Bild wegwischt. Ähnlich verwirrend werden die Besucher der Insel durch Prosperos Geister gesteuert.

 

Das Unmittelbare

Neue Räume, die sich nicht entwickeln, erscheinen unmittelbar und überraschend in Barbara Ehnes‘ Bühnen. Sie entstehen nicht. Sie sind durch Schnitte voneinander getrennt. Sie behaupten jeweils eine ganz neue Welt. Sie erklären nichts; sie kontrastieren mit dem Vorausgegangenen. Durch das Unmittelbare wird häufig ein ganz neuer Aktionsraum für die Spieler erzeugt, die mit ganz neuen Haltungen auftreten dürfen. Für Stefan Bachmanns Uraufführung von Rainald Goetz‘ „Jeff Koons“ am Hamburger Schauspielhaus wurden in einen Kneipen-Grundraum ein pinkfarbenes Pennermilieu mit goldenen Möbeln, ein silbernes Künstleratelier mit Referenz auf Andy Warhol und ein weißer Galerie- oder Ausstellungsraum hineingefahren, so verblüffend, als hätte der Künstler immer wieder eine neue Idee zum eigenen Leben oder als könnte man das, was sich grade materialisiert hat, augenblicklich umträumen in andere Künstlichkeiten.

Literarische Vorlagen, die einen Einheitsraum nahelegen würden, zerteilt Barbara Ehnes in drei oder mehr kontrastierende Räume, unterschiedliche Welten, unterschiedliche Spielweisen: So beginnen an der Berliner Volksbühne Tschechows „Die Vaterlosen“ in einer post- kartenkitschig ausgestatteten Hawaiibar; es folgt ein tiefer, weißer, leerer Raum, in dem die Spieler auf Sofas herumfahren wie in Autoscootern, um ihre intimen Konflikte auszutragen, und endet auf einer extrem steilen schwarzen Schräge, die wie eine Soundbox aussieht, auf der die Spieler gemeinsam abstürzen.

Für die „Orestie“ in der Züricher Schiffbauhalle erfindet sie drei Räume einer Amerika-Trilogie: ein weißer Block, in den eine kreisrunde Vertiefung eingeschnitten ist, ein Empfangsraum und eine Fläche einer abstrakten Weißes-Haus-Architektur. Der zweite Teil ist eine unterirdische Siedlung, die aus einer TV-Serie stammen könnte mit künstlichen Gärten, Minigolfplatz, Pool, Barbecue usf. Der dritte Teil ist ein amerikanischer neoklassizistischer Gerichtsraum.

In Schorsch Kameruns Inszenierung der „Schneekönigin“ sitzen die Zuschauer auf einer Eisscholle, die sie von der idyllischen Kindheitswelt durch den Wald in die Eiswelt fährt. In „Hedda Gabler“ am Deutschen Theater in Berlin geht die Protagonistin in jedem Akt in einen neuen Raum und eine andere historische Zeit.

Das gegenwärtige Versuchslabor

Die Räume von Barbara Ehnes sind weder historisierend noch aktualisierend. Sie verhalten sich zu allem, auch zu den historischen Stoffen, gegenwärtig; ihre Perspektive ist die Zeit, in der die Zuschauer der Inszenierung leben. Sie haben nie eine eindeutige historische Zuordnung, sondern aktualisieren immer mehrere Zeiten, da es pure Gegenwärtigkeit gar nicht geben kann. Die Protagonisten leben in der Gegenwart und gehen mit anderen Zeiten um. Alle Räume, sofern sie nicht abstrakt bleiben, zitieren als Referenz auf das Heute Motive heutiger populärer Kultur oder heutiger alltäglicher Lebenswelten. Auf ihren Flächen werden Bilder davon erzeugt, wie sich Menschen heute sehen, wie Menschen heute wahrgenommen werden möchten. Es wird keine Umgebung eingerichtet für die Spieler, um eine soziale oder kulturelle Welt vorzustellen. Es erscheinen wechselnde heutige Welten, in die sich die Spieler hineinstellen, um vor oder auf oder über ihnen einen Stoff zu verhandeln. Historische Zeiten, aber auch das imaginierte Heute werden in Brüchen als Ausstattung und Werkzeug der Menschen benutzt.

Jeder Raum ist ein Versuchslabor, das Materialien und Maschinen enthält, um Bilder immer wieder neu zusammenzusetzen, etwas in eine andere Perspektive zu bringen, die Körper zu transformieren. So offen, spielerisch, nachdenklich entgrenzt wie die Choreografin Meg Stuart in der vielleicht offensten, leichtesten Raumanordnung, die Barbara Ehnes gebaut hat, in dem Solo „Hunter“, in dem sie mit der eigenen Künstlerinnenbiografie experimentiert, um sich immer wieder anders wahrzunehmen und anders zu erscheinen.

Es ist nur konsequent, dass sie neben der Realisierung von Bühnenbildern begonnen hat, ihre Konzepte als experimentelle, bespielte Installationen in politischen und feministischen Kontexten zu realisieren. Sie schuf für mehrere Ausgaben des Performance-Parcours „X Wohnungen“, für die Wiener Festwochen und für Theater der Welt performative Installationen. Meist hat sie mit diesen Installationen ungewöhnliche Porträts von Menschen geschaffen, die in extremen Situationen leben, und eine Kommunikation hergestellt zwischen den Besuchern der Installation und diesem fremden Leben.

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