Theater der Zeit

Protagonisten

Wie schwebend

Für Regisseurin Anne Lenk ist eine Theaterarbeit dann geglückt, wenn man die Regie fast vergisst und Schauspiel, Text und Raum zusammenfinden – ein Porträt

von Jakob Hayner

Erschienen in: Theater der Zeit: Miser Felix Austria – Martin Kušej über seinen Start am Burgtheater (09/2019)

Assoziationen: Akteure Staatstheater Nürnberg Deutsches Theater (Berlin) Residenztheater Thalia Theater Burgtheater Wien

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Jemand habe einmal gesagt, am Theater sei es wie beim Pizzalieferdienst. Am Ende geht es um die Pizza, nicht um den Boten. Und so verstehe sie auch ihre Aufgabe, sagt Anne Lenk. Als Regisseurin wolle sie hinter das Werk zurücktreten, sich nicht aufdrängen. Das habe auch mit Verantwortung zu tun. Der Begriff fällt in dem Gespräch des Öfteren. Verantwortung trage sie gegenüber dem Text, dem Raum, den Schauspielern – gegenüber der gemeinsamen Arbeit. Wenn sich die Schauspieler zur Verfügung stellen, so möchte sie als Regisseurin das ebenfalls tun. Keiner rangiert über dem anderen. Verbunden sind sie nicht durch ein eisernes Gehäuse der Hörigkeit, nicht durch Pflicht und Gehorsam, Befehl und Folgeleistung. Sondern durch die Arbeit an einer gemeinsamen Sache. Und die Lust daran. Denn die benötigt es zum Spiel. Sie wolle keine Schauspieler, die nur auf Befehl spielen, erzählt Lenk. Ihre Einwände sind nicht nur ethischer Natur, auch ästhetischer. Kunst kann nicht aus Pflichterfüllung, sondern aus Freiheit entstehen. Wobei, so ergänzt sie, zur Freiheit auch Regeln gehören. Regeln, die das gemeinsam Verabredete aus­drücken. „Theater ist Verabredung“, sagt Lenk. „Und auf Grund­lage dieser Verabredung fertigen wir ästhetische Produkte an.“ Das Ideal dieser Produkte ist, dass sie sich selbst tragen, dass sie mehr sind als das, was die Einzelnen beisteuern, dass sie mehr sind als Handwerk – Kunst eben. Das ist, was Lenk interessiert, Theater als Kunstform.

Wenn Anne Lenk spricht, so wirkt sie wie ihre Inszenierungen. Ihre Äußerungen sind präzise und deutlich, durchdacht und überlegt, unaufgeregt und ernst und dabei doch mit feinem ­Humor und spürbarer Begeisterung. Weder springt sie von einem Punkt zum anderen, noch reiht sie Unbedachtes oder Phrasen aneinander. Mit Leichtigkeit entwickelt sie vielschichtige Gedanken oder schildert Beobachtungen. Und sie spricht über ihre Kunst. Wie man mit dem Theater die Welt begreifen, sich ihr ­nähern oder sie vielleicht gar aushalten kann. Für wen man das alles macht? Für das Publikum. Für ein denkendes und mitdenkendes Publikum, präzisiert Lenk. Sie will, dass das Publikum sich Fragen stellt. Nicht, dass der Regisseur für das Publikum Fragen stellt, dafür braucht man kein Theater. Einfache Botschaften oder erbauliche Belehrungen sind von ihren Inszenierungen nicht zu erwarten. Als passionierte Zuschauerin weiß sie, dass der Zauber des Theaters sich nur dort ereignet, wo die Zeichenhaftigkeit des Bühnenspiels eine Konsequenz und Stimmigkeit erreicht, dass selbst sie als professionelle Regisseurin aufhört, auf das Handwerkliche – was dann meist das Misslungene ist – zu achten. Theater muss überzeugen und das Publikum erreichen, und zwar intellektuell sowie sinnlich. Diesen Anspruch stellt sie auch an ihre eigenen Arbeiten.

Geistiges und Sinnliches gehören gleichermaßen zum Thea­ter, sie verschränken sich auf der Bühne, erst daraus entsteht die Spannung. Text und Körper konfrontieren sich, Sprache und Handlung stehen im Verhältnis. Der Schauspieler Fabian Hinrichs hat in seinem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Plädoyer für ein Theater, das sich im freien Spiel begründet, von Immanuel Kant den Begriff der „Gefühlsgedanken“ entlehnt. Spielendes Denken, denkendes Spielen. „Schwitzen und Stampfen auf der Bühne interessieren mich nicht“, sagt Anne Lenk. „Mich interessiert Denken.“ Und dieses Denken muss sichtbar, muss spürbar, muss fühlbar sein. Also Gefühlsgedanken. Auch deswegen hatte sie entschieden, sich während des Studiums umzuorientieren. 1978 geboren, studierte Lenk zunächst Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen. Dort pflege man einen sehr theoretischen Zugang zum Theater, der ihr durchaus gefallen, aber nicht ausgereicht habe. So ging sie nach München an die Otto-Falckenberg-Schule. Dort konnte sie das Regieführen erproben. Wenn man ihre Inszenierungen sieht, so fallen zunächst die fast puristischen, strengen Bühnenräume auf, oft entworfen von der Bühnenbildnerin Judith Oswald, mit der Anne Lenk regelmäßig zusammenarbeitet. Hinzu kommen die exakte Sprachregie und ein außerordentliches Gespür für Figuren. Für Dekoration und Ornamentales hat Lenk nichts übrig. Alles muss an seinem Platz sein, nichts ist überflüssig. Auch verzichtet sie auf das Anhäufen von Fremdreferenzen und Zitaten. Was zu ­sehen ist, muss sich aus sich selbst heraus erklären. Und das funktioniert freilich nur über die Schauspieler.

Unter der dünnen Schale das Reptil

Nach dem Studium arbeitete Anne Lenk zunächst in Augsburg. Dann am Thalia Theater in Hamburg, am Deutschen Theater in Berlin und am Residenztheater in München. Seit vergangener Spielzeit ist sie Hausregisseurin am Staatstheater Nürnberg. In dieser Spielzeit wird sie am Burgtheater Wien und am Staatsschauspiel Hannover inszenieren. Verschiedene Städte, verschiedene Häuser, verschiedene Ensembles und auch ein jeweils verschiedenes Publikum, das reize sie. Wenn sie an einem Theater gut arbeiten könne, wenn spürbar ist, dass sich Haus und Team gut verbinden, bleibe sie auch länger als für eine Produktion. Gleichzeitig könne man sich mit der Arbeit an unterschiedlichen Häusern weiterentwickeln. Das schlägt sich in ihren Inszenierungen nieder. In Ernst Tollers 1927 von Erwin Piscator uraufgeführtem Stück „Hoppla, wir leben“ (Residenztheater München, 2014) ist es Franz Pätzold, der als aus dem Irrenhaus entlassener Revolutionär Karl Thomas durch eine Welt stolpert, die ihm sichtbar fremd geworden ist und im Zeichen der missglückten Revolte steht. „Ich find’ mich nicht mehr zurecht in dieser Zeit“, lässt er verlauten. Judith Oswald gestaltet diese Welt als eine Pyramide, ein Sinnbild der sozialen Hierarchie. Die von Sibylle Wallum entworfenen Kostüme erinnern an George Grosz’ „Die Stützen der Gesellschaft“, überzeichnete Sozialcharaktere einer überkommenen Gesellschaft, die sich mit allen Mitteln an die Macht klammern. Auch mit Wallum arbeitet Lenk oft zusammen.

Ähnlich expressionistisch gezeichnet war Lenks Adaption von Ingmar Bergmans Film „Das Schlangenei“ (Residenztheater München, 2017), ebenfalls in den zwanziger Jahren situiert. Es ist wieder Pätzold als Protagonist, der den jüdischen Zirkusartisten Abel Rosenberg spielt. Die geometrische Bühne von Judith Oswald wirft harte Schatten wie in den Filmen der Zeit. So entsteht ein bedrückendes Szenario, in dem sich Verzweiflung, Resigna­tion, Fatalismus mit Brutalität, Zynismus und Antisemitismus verbinden. Eine Vorwegnahme des Faschismus, „unter der dünnen Schale kannst du schon deutlich das entwickelte Reptil erkennen“, ein Schlangenei. Sowohl „Hoppla, wir leben“ als auch „Das Schlangenei“ waren Inszenierungen, die noch sehr frontal funk­tionierten, die strenge Setzungen mit dem eher anarchischen und expressiven Spiel von Pätzold konfrontierten. Er sei wie ein Sprengkörper in der Gesellschaftspyramide, erzählt Lenk, etwas Fremdes in dieser Welt. Das war auch die Besetzungsidee. Denn Pätzold sei ein Schauspieler, der gewissermaßen das Gegenteil von ihr mit in die Arbeit einbringe, was mit Reibung, aber auch Freude einhergehe. Erstmals arbeiteten die beiden bei Franz ­Xaver Kroetz’ „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“ (Residenztheater München, 2012) zusammen. Und zuletzt bei Samuel Becketts „Endspiel“ (Residenztheater München, 2018), auch ein kleines Endspiel in der Zusammenarbeit in München, vorerst zumindest.

Ein Bild der Menschheit in der Klemme

Auf der Bühne steht im Lichtkegel ein Bürodrehstuhl, Konfetti regnet herab. Ein endzeitliches Stillleben. Bühne und Kostüme sind wieder von Oswald und Wallum. Oliver Nägele als Hamm und Pätzold als Clov liefern sich einen durch die Sprache getragenen Schlagabtausch in ihrer leerlaufenden Dialektik von Herr und Knecht. „Wir entlassen einander“, heißt es am Ende. Ein Spiel, in dem Lenk auch die humorvollen Momente aufleuchten lässt, ohne dass diese in die Groteske kippen. Und plötzlich erkennt man in dem „Endspiel“ auch „Dinner for One“ – und umgekehrt. Jedes Jahr wieder, ein Ritual, ein Spiel, die Wiederkehr des Immergleichen zwischen fröhlicher Resignation und bitterer Bewegungslosigkeit. „Endspiel“ sei ein Modell der Wirklichkeit, sagt Lenk. Mehr als naturalistische Bebilderung interessieren sie diese Modelle der Welt und des Lebens. Auch antike Mythen wie Ödipus haben ihr zufolge bis heute nichts an ihrer Aussagekraft verloren, weil sie ein Bild der Menschheit in der Klemme zeigen, auf der Suche nach einem Schuldigen, der man doch selbst ist. Ein solches Modell trägt sich auf der Bühne allein, alle Elemente sind aufeinander bezogen – und als solche weisen sie dann über sich hinaus. Hamm und Clov müssen nicht in der Fußgängerzone ­sitzend dargestellt werden, um mit unserer Welt etwas zu tun zu haben, sagt Lenk.

Die bisher reifsten Arbeiten von Lenk sind Anton Tschechows „Die Möwe“ (Staatstheater Nürnberg, 2018) und Molières „Der Menschenfeind“ (Deutsches Theater Berlin, 2019), zwei in ihrer Konsequenz und Stimmigkeit beeindruckende Abende. Bei beiden fällt auf, wie überzeugend die Figuren entwickelt sind, wie sie in sich und in Bezug auf die Gesamtheit der Handlung artikuliert sind. Dadurch bekommen die Inszenierungen fast etwas Schwebendes, weil sie sich allein aus dem Zusammenspiel der Schauspieler tragen. In der „Möwe“ ist es wieder ein Raum von Oswald, der als steinernes Monument irgendwo zwischen Innen- und Außenraum changiert. Wie in einer therapeutischen Familienaufstellung sind die Figuren darin platziert. Das Theater im Theater kommt als Schattenspiel daher, das eine immersive Performance parodiert, es beginnt heiter. Doch im Laufe der Inszenierung sinkt die Farbtemperatur im Raum von gelblich warm auf bläulich kühl. Die Verhältnisse vereisen, das Unglück naht. Der Schuss, ein Zwischenfall, das Spiel geht weiter. Nur für die von Pauline Kästner gespielte Nina nicht, die Lenk als eigentliche Hauptfigur inter­pretiert. Sie will weg, in die Stadt, Schauspielerin werden. Das wirkt auf die anderen naiv, doch zieht sie als Einzige ihre Konsequenzen aus dem erstarrten Leerlauf. Eine Deutung, die überzeugt – und zudem groß­artig gespielt ist.

Ganz ähnlich ist es beim „Menschenfeind“. Lenk ermöglicht es der groß aufspielenden Franziska Machens, die Figur der Célimène neu zu fassen – nicht als kokettes Wesen mit leichtsinnigen Neigungen, sondern als eine souveräne Spielerin auf durchaus ungünstigem Gelände. Umgeben von sich aufplusternden Verehrern, ist sie ­diejenige, die sich trotz diverser Widrigkeiten zu behaupten weiß. Ulrich Matthes als Alceste ist ein großartiger Gegenpart, der die Abgründe der gehobenen Gesellschaft kennt, der aus Erfahrung, nicht aus Irrtum bitter geworden ist. Doch indem er meint, dass die Wahrheit nur jenseits allen Spiels zu finden wäre, betrügt er sich selbst – weil er den nichtbetrügenden Schein der Liebe nicht gelten lassen will. Célimène weiß darum, sie ist klüger, doch wird ihr kein Glauben geschenkt, das ist ihre Tragödie. Der Abend verbindet ­große Komik mit ebenso großem Ernst. Überhaupt kann Lenk das Bühnengeschehen lustig machen, ohne sich über etwas lustig zu machen. Auch deshalb kann mit Spannung ihre Adaption von Sally Potters „The Party“ am Wiener Burgtheater erwartet werden, einer Komödie, die die Lebens­lügen der Protagonisten entlarvt, zugleich aber deren Schwächen angesichts der eigenen Endlichkeit zeigt. Die Premiere ist – passenderweise – eine Woche vor den Neuwahlen in Österreich.

Zwar ist das Ibiza-Video ein Skandal, weitaus skandalöser aber ist der soziale Rückschritt, der in Österreich in den vergangenen Jahren beispielsweise durch die neoliberale Zerschlagung des Sozialsystems durchgesetzt wurde. Dass die Politik dem Theater immer ähnlicher werde, ein Spektakel ungedeckter Behauptungen, empfinde sie geradezu als Schock, erzählt Lenk. Doch auch mit „The Party“ werde sie nicht auf direkte Ansprachen setzen. Es geht ihr wieder um ein Modell der Wirklichkeit. Daran, dass das Theater sich als Kunst zur Welt verhalten muss, führt kein Weg vorbei. Und diese Kunst liegt ihr am Herzen. Aufmerksam regis­triert sie auch die Schieflagen des Theaterbetriebs, ohne deswegen diesen Umstand ohne Unterlass zu beklagen. Klagen liegt ihr nicht, sie will arbeiten, Verantwortung übernehmen, verändern. Das Zentrum von Lenks Inszenierungen ist immer wieder die Fremdheit in der Welt, bei Molière, Tschechow oder Beckett. Und umgekehrt ist es auch die Weltfremdheit des Theaters, die sie interessiert. Dort gelten andere Gesetze als in der Welt. Aus dieser Fremdheit kann das Theater seine Kraft ziehen – mit der Welt, gegen die Welt, zugunsten einer anderen Welt. An Anne Lenks Inszenierungen wird man nicht vorbeikommen. Vielleicht ist der Bote nicht so wichtig, die Botschaft ist es allemal. //

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