Theater der Zeit

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Zwischenstände

von Melanie Suchy

Erschienen in: And here we meet: Choreography at the edge of time – Alexandra Waierstall (06/2025)

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Tanz Alexandra Waierstall

HEART MOMENT, Karolina Szymura am tanzhaus nrw in Düsseldorf, 2024. Foto Christian Herrmann
HEART MOMENT, Karolina Szymura am tanzhaus nrw in Düsseldorf, 2024.Foto: Christian Herrmann

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Es könnte sein. Konjunktiv. Tanz kann vieles (nicht alles); für diejenige, die tanzt, auch diejenige, die das sieht, kann Tanz das Mögliche, sogar das Unmögliche realisieren. Das Unfassbare begreiflich machen. Oder das Begreifliche, das Begriffene unfassbar. Alexandra Waierstalls Choreografien bewohnen diesen unbewohnbaren Raum; sie werten das Dazwischen auf – und aus.

So weisen sie mir, als Zuschauerin, keine bestimmte Position zu, sondern lassen mich optische Distanz und bewegtes Beteiligtsein ständig austarieren. Dabei schätze ich es eigentlich, den Tanz von nahem zu sehen. Ich gehe mit beim Zusehen oder stocke, suche, finde, erfinde weiter, wende, folge, horche. Etwas ist – auch – durchsichtig, halb sichtig. Ich versuche, zu durchschauen. Träume das Gesehene rückwärts aus eigenen Bildern heraus.

Solch ein Bewegen mit dem Tanz zu wecken und in Gang zu halten, finde ich in dieser Art selten in der Szene des zeitgenössischen Tanzes in der Region und darüber hinaus. Diese feinsinnige Art, mit der die Choreographin ihrem Medium Tanz vertraut, kombiniert mit Licht, Raum, Klang, Kostümen und Objekten. Die Kunst schaut dann auf ähnliche Weise zurück. Man braucht einen Blick dafür.

                mit Sinnen

Denn was in Alexandra Waierstalls Werken die einzelnen Tänzer:innen oder eine Gruppe antreibt, sie zueinander zieht, anhält oder auseinander bläst, ist nicht offensichtlich. Wie nahe das scheinbar Entfernte, Andere, das Tanzen, da drüben auf der Bühne mir kommt. Mir als Mensch. Eben weil es sich nicht fix etikettieren lässt und ich tasten darf. ‚Ahnen‘ nannte das Pina Bausch, die choreographisch ganz anders vorging.

Zum ersten Mal begegnete ich Alexandra Waierstalls Arbeit 2007 im Studio 6 des Tanzhauses NRW in Düsseldorf, bei einer Probe zu Crossing Borders, um einen Vorbericht für die Lokalzeitung zu schreiben. Die ‚Grenze‘ war nah, kaum zwei Meter entfernt: Klebeband, gelbe Gummihandschuhe, ein Häuflein Erde. Am weitesten weg war ich bei der Aufführung der Sixteen Dances 2016 in der Kölner Philharmonie. Tanz in dem Konzertsaal, eh selten, tendiert zum Spektakel, visuell laut. Nimmt er den Kampf gar nicht erst auf, muss er seine Verlorenheit ausspielen. Als dort, in der unteren Holzbühnenferne, Tänzerin Dani Brown zu John-Cage-Musik ihre Kleidung ablegte, passte das überhaupt nicht zum Ambiente. Ihre Ungeschütztheit irritierte. Hier! sagte die laute Stille. Haut, Holz, fast eine Skulptur, also gekommen, um zu bleiben, eine Frau. Unerhört.

                deuten

Alexandra Waierstall stellt mit ihren Tänzer:innen Beweise auf. Wobei Aufstellen ein ständiges Errichten und Ausbalancieren meint, kein Einrammen. So (be)weisen die Choreografien eine Position des Menschlichen in der Welt und mit der Welt, die nicht fix ist. Dieses ‚mit‘ ist immerzu da. Kontakt. Anders gesagt: Was Mensch ist, verkörpert von Waierstalls Tänzer:innen, kann nie separat von den sie umgebenden Elementen gedacht werden. Diese Berührungen, Berührbarkeiten, gegenseitigen Einflüsse, Flüsse als Kräfte finden sich in allen ihren Choreographien.

Die Körper, die wir da sehen, fransen an den Rändern ihrer Selbstverständlichkeit aus. Sie sind nicht schwach, aber brechlich. Fragil im Sinne von Schneeflocken in der Arktis, Tropfen im Fluss, Erdkrumen im Feld. Nicht fragmentiert, sondern vollständig, eigentlich perfekt, aber nie fertig. Sie geben nie auf. Sie halten einen Kern aus Kraft. Vielleicht Widerständigkeit. Bewusstheit, Lebenswille.

                was wäre

Sie leiden nicht, also: Sie spielen nicht, sie litten an etwas auf der Bühne. Sie verlieren auch nicht ihren Verstand, so dass sie mit dümmlicher Miene durch die Gegend waberten. Gefühle sind anwesend, aber nicht als Theater, nicht als Treibstoff oder unter Knopfdruck. Eher: anwehend.

Denn das Herz ist bloß ein Organ. Es ist das eine Organ aus Fleisch und Blut, im Fleisch, fürs Blut, das Waierstall mehrmals in ihre Stücktitel setzt. Herz als ein Hineinhorchen in das Pochen und Strömen, ins Innere von Körpern und was dies mit dem Verbinden mehrerer Körper, also Menschen, zu tun hat. Verbindlichkeit. An seinen Rhythmus erinnern tiefe Sounds in der musikalischen Landschaft mehrerer ihrer Choreographien. Sie kehren das Innere nach außen ans Ohr. Auch sind sie Reminiszenz an das Uralte, an den Ursprung von Tanz, und an die Zukunft: das noch ungeborene Kind, das hört. Das Herz erzeugt Klang aus Bewegung. Fühlbar. Also doch: Gefühl.

                wenn

Die Hand des einen Menschen findet die Brust des Gegenübers, die Handfläche sagt Guten Tag. Oder: Bist Du das? Oder ich? Das Herz ist da, in HEART MOMENT (2024). Ein Fühlen der Gegenseitigkeit entsteht. Oder des Eins-Seins: Die Fingerspitzen einer Hand finden die Stirn, die zu dem steigenden Arm gehört. Er legt vors Gesicht eine Art Hülle. Die Augen schließen sich, die Finger streichen nun herab, sachte, als läsen sie, suchen sie einen Weg auf, an, für den Körper, den Geist, gelangen zur Brust.

                Atmende

Der Kopf wiederum stellt seine gewöhnliche Funktion oder Dominanz in Frage. Auch dies sieht man in mehreren Stücken Waierstalls: Eine Tänzerin zieht ihren Overall aus und schlingt ihn um den Kopf. Die Hülle des Körpers wird verlagert, transplantiert. Das Haupt wird verdickt zum Bündel, fast Ball, ohne Augen, ohne Richtung. Doch es scheint hier nicht um Blindheit zu gehen oder ein Fehlen. Eher um das Ein- oder Umkehren von Wahrnehmung: Körper orientieren sich ohne Sehsinn.

Der Klump lässt sich auch als Planet Erde denken, der die Frau trägt – und sie ihn. Sie transformiert seinen Rundflug und seine Schwerkraft oder erbt sie. Einen richtigen blauen, sogar leuchtenden Globus gab es in Crossing Borders. Dieses Stück war in der Ausstattung fast üppig, wie es ihre Werke danach nicht mehr waren. Einem Liegenden wurde der Kopf mit Erde bedeckt, aus der heraus er per Mikrophon hörbar atmete, ein auf den Kopf gekippter Tänzer, Füße in die Höh‘, schien die Erde, den Erdball, wie Atlas auf seinen Schultern zu tragen. Man muss nur die Blickdenkrichtung umkehren.

                werden, wenden

Als Heimatlose streiften die sechs Tänzer:innen über die Bühne, suchten sich auf einem Stück Welt zu verorten, im geographischen und existentiellen Sinne. Entrückt anwesend wirkten sie, mit einer aussichtslosen Entschiedenheit, als trügen sie eine unkenntliche Vergangenheit und blinde Zukunft mit sich. Ein ewiges Dazwischen, wie es das Leben mit den Folgen von Krieg und ständiger Bedrohung kennt. Linien werden auf den Boden geklebt, halten Entscheidungen über Gebiete fest. Trennen. Und fixieren Gegenstände und eine Frau, als müsste sie daran gehindert werden, in den Weltraum zu fallen.

kippen

Solche Grenzen werden nun besetzt, überquert, ‚crossing‘. Übergänge. Aus Hinübergehen wird Hinübergeben, erkennbar an Momenten des Tragens und Ertragens. So wie diese Stadt im Hintergrund, projiziert, still steht. Dächer, dahinter ein Gebirgszug wie eine Wand, darüber Himmel. Sehr langsam wird es dunkel über dem von Sandeep Mehta gefilmten Nikosia, Waierstalls Heimatstadt im geteilten Zypern. Stehen die Tänzer:innen in einer Reihe vor dem Video wie vor einem riesigen Fenster, spürt man, an ihrer Stelle, die Melancholie eines Abschieds oder einer Fremdheit. Die Kühle des Abends und des Alls statt der Wärme unter den Dächern.

nochmal

Die Sonne, eine buchstäblich überirdische Macht. Auch ein anderer Planet kam schon vor in Waierstalls Universum, in VENUS un/seen (2020). Sichtbarsein hat ebenso eine Grenze überschritten; und das Werden von Form aus Nicht-Form oder umgekehrt tut es. Erst ist ein fließendes Gleißen im Dunkeln zu sehen. Ein blitzender Umhang, ein verhülltes Wesen. Kein Gesicht. Es betritt helleren Grund, streicht fußschleifend und sich drehend durchs Gelände. Mit der Zeit verändert es sich; die Tänzerin Karolina Szymura enthüllt ihren Körper bis auf einen mattsilbernen, langärmligen Turneranzug bedeckt ihn wieder, diesmal mit einem erdfarbenen Mantel. Sie eilt, wirbelt, schwingt Bögen, auch auf einem Bein, sie kriecht, sie stockt, sie hüpft kurz. Mal ist sie Herrin der Gefilde, mal wirkt sie wie getragen und geworfen von Wellen, von Brandung, auf und ab und herum und zurück. Venus, die Schaumgeborene, eine Tänzerin, die ins Tanzen taucht und zuweilen auftaucht, aufräumt, Tücher drapiert und sich selber im indirekten Licht. Das Stück nahm 2020 Elemente früherer Waierstall-Choreographien auf und brachte sie auf den Punkt, der keiner ist, sondern Funkeln.

                ab jetzt

Als Elemente kehren wieder: das indirekte Licht, ein Schein, dessen Quelle verborgen bleibt und der einen Hauch Unwirklichkeit verströmt; der Umgang mit Skulptur oder Skulpturalem, als Zusammenfügen und Entfügen dreidimensionaler Gebilde frei von zeitlichem Zwang. Naturelemente, Wasser, Wind und Gold, ohne ‚Natur‘ vom Menschen abzugrenzen, waren Themengeber mehrerer Choreographien. Von Schönheit, apropos Venus, ist nie explizit die Rede in den Inszenierungen. Sie sitzt still hinter den Kulissen, lächelt vor sich hin, ist höchstens Zeugin verfließender Ideale.

                von hier

Leise Anfänge. Manche Choreographien wirken, als sei da vorher etwas gewesen. Tänzer:innen treten auf, ein Video erscheint oder ein Licht auf dem Boden, doch im Grunde sind die Zuschauer:innen bloß hinzugekommen in einem Moment und halten für Anfang das, was nach ihrem Stillwerden und der Verdunklung des Saals geschieht. Dieses Verwackeln oder Verspiegeln des Jetzt ist ein wesentlicher Bestandteil von Waierstalls Tanzkunst, im Großen, auf ihr Werk bezogen, wie im kleinsten Detail einzelner Bewegungen oder Relationen der Tänzer untereinander.

Fast biblisch begann A CITY SEEKING ITS BODIES (2015). Eine Stimme aus dem Off sagt Namen. Das Benannte erscheint aber nicht auf der Bühne, nur in den Köpfen der Zuschauer, als Erinnerung, Image oder Nachrichtenstoff. ‚Singapur‘, ‚London‘, ‚Vilnius‘, ‚San Francisco‘ knüpfen ein Netz über den Globus. ‚Galapagos‘, ‚Tschernobyl‘. Katastrophen? Gewesene, kommende. Im Film auf der Leinwand hinter der Bühne gleitet ein beschneiter Nadelwald vorüber, von einem Fluss aus gesehen. Dann knorrige Bäume an Wasser, vielleicht am Rhein. Flackerndes Rot bricht kurz ein, fingiertes Materialfeuer der Videokünstlerin Marianna Christofides, eine unheimliche Warnung.

                herüber

Auf der heller werdenden Bühne liegen Körper wie Treibgut. Rollen langsam, als drücke doppeltes Gewicht sie zu Boden. Stehen auf, sinken, verbiegen sich, bis sie sich wieder aufrichten, wieder verzerren, verzerrt werden von etwas, das man nicht sieht, vielleicht nur hört. Plötzlich rennen sie, als eine Art Herzschlag ertönt und elektrifizierte Streicherklänge ins Gehör schneiden. Sie laufen als Gruppe wie in einer schwappenden Welle, hin und her, Einzelne bleiben in der Mitte des Felds übrig, werden vom nächsten Schwall wieder mitgenommen; ein anderer steht da nun. Ausgetauscht. Oder zwei. Sie tanzen, nah beieinander, mit luftigen Armen. Drei Sekunden dauert diese Geschichte oder ihr Leben dort. Dann werden sie wieder mitgerissen. Einer widersteht wie ein Baum dem Schwung, der ein paarmal an ihm vorbeirauscht und schließlich ausfranst. Ein Paar hat dann den Platz für sich. Die beiden tasten, fühlen Luft und schauen wie Entwurzelte in eine ihnen fremde Welt. Legen sich schließlich auf eine Linie, die anderen dazu, sie bilden eine Schwelle oder eine Genealogie.

                in Zeitaltern

Waierstall lässt auch hier, zu live gespielter Musik von Volker Bertelmann alias Hauschka, 2015 ihre sechs famosen Tänzer:innen mit der Grenze zwischen Mensch und Ding, Gewächs, Tier, Erde, Luft agieren. Zwischen Bleiben und Vergehen. Zwischen Mechanik, in pendelnden Armen, und genussvoller Bewegungsfreiheit des Ausgreifens und Schwebens. Man muss nur gut hinschauen. So wie die Tänzer:innen am Ende ruhig sitzen und in dieselbe Richtung schauen wie wir, wie ich. Wie an einem Ufer.

                bleiben oder gehen und

In einen weißen Raum mit zwei Personen wirft Waierstall den Blick in Tomorrow in Present Tense (2010); der Anfang so ruhig, dass ich mein eigenes Herz rumoren höre. Ließe sich das Künftige aus dem allzu festen, ‚tense‘, Heute herausschälen oder mit der Sprache des Jetzt erzählen, im Tempus Präsens?

Nie verlässt Christos Papadopoulos, der Dableiber, die Bühne; Evangelia Randou kommt und geht. Er hat zu Beginn Stimme und Sprache; sie tut, was er sagt. „She is standing, she is looking at you“. Oder sie tut es nicht. Steht bei ‚walking‘ oder tanzt mit drehenden Armen, rollt, krabbelt bei ‚running – still‘. Wer kennt schon das Künftige genau oder kann es kontrollieren? Ihre Hand zieht hinab, bis die Fingerspitzen den Boden sacht berühren wie etwas Neues. Als fixiere nun ein Pfeil diesen Körper an der Erde. Er löst sich wieder, tummelt sich lautlos auf und ab, dreht, hält an, Arme waagerecht, Blick über die Schulter, zurück. Während aus dem Off Marios Takoushis' tunnelartige Töne am Raum saugen, folgt Randou einem Rhythmus der melancholischen Leichtigkeit, bis sie steht und sich alles ändert. Denn ihr Blick trifft erstmals den von Papadopoulos. Sie springt ihm auf die Schulter, gleitet herab, er hält sie nicht. Auf der Videowand hinten ein einsamer Baum, bildlich verdoppelt, Illusion der perfekten, unrealistischen Zweiheit.

                lassen

Er kreist vergesslich um sich. Sie verschwindet. Er berührt Stellen am Boden, wo sie vorher war. So berühren sich die Zeiten – Körper, Blicke. Ein Wäldchen wächst. Randou trägt Palmpflanzen in Töpfen herein. Man sieht Anfänge von Welt oder Adam und Eva. Oder Zeitraffer: So wird’s sein. Aus dem erst kraftlosen Miteinander der zwei wird ein immer aktiveres Begegnen. Sie rennen. Sie steigt ihm auf die Füße, er drückt sie, hebt sie auf, hält sie, als sie kippt, unterstützt ihren Fluss und trägt sie schließlich auf seiner Schulter wie einen zweiten Kopf. Vielleicht war sie die ganze Zeit sein Hirngespinst, eine Vorstellung, etwas nicht Begriffenes. Er ist gewachsen.

Zukunft an sich, ‚future‘, ‚tomorrow‘, lässt sich nicht darstellen, aber Verändern und Verändert-werden. Alexandra Waierstall lässt ihre Tänzer arbeiten an der Zeit wie in einem Ruinenfeld oder Bergwerk. Ohne sich an einen Ort zu begeben, wäre das nicht möglich. Dort müssen sie es finden. Müssen sich finden, es befinden, etwas finden, was schon da war oder in Zukunft sein kann. Sie schürfen. Sie schaben, sie sprengen vielleicht. Lassen die Luft um sich gerinnen oder ihr eigenes Flüssigsein. Deshalb schauen sie manchmal nur. Oder verdichten den Lauf der Dinge in einer einzigen Position gleich einer Skulptur. Sie streicheln oder umarmen, fühlen an ihrer Haut das Andere, das nicht sie sind – oder doch sind?

                machbar, lösbar

So wie die Künstlerin mit ihren Choreografien in die Welt hineinhorcht, gibt sie diese geschärfte Aufmerksamkeit an die Zuschauer weiter, wenn sie das Verändern bemerken – von Farben, Formen, Räumen, Perspektiven, Menschen, von Beziehungen zwischen allem. Blicke werden frei. Auch das zu sehen, was nicht da ist, etwas daneben, dazwischen, darüber und außerhalb, imaginär und doch real wie der Wind, die Wolken, die Strömung des Wassers, die Zeit ∼

                werden

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