Theater der Zeit

bayerische theatertage

Rollladen zu, Vorhang auf

Aus Bayerns alten Theatertagen ist in Bamberg ein neues Festival geworden

von Michael Helbing

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Akteure Theaterkritiken Sprechtheater Bayern E T A Hoffmann Theater

Antonia Bockelmann, Philine Bührer und Marie-Paulina Schendel in der Uraufführung von Theresia Walsers „Kängurus am Pool“ im Rahmen der Bayerischen Theatertage am ETA Hoffmann Theater Bamberg.
Antonia Bockelmann, Philine Bührer und Marie-Paulina Schendel in der Uraufführung von Theresia Walsers „Kängurus am Pool“ im Rahmen der Bayerischen Theatertage am ETA Hoffmann Theater Bamberg.Foto: Martin Kaufhold

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Rollläden rasen, ratschen, rattern wie Guillotinen oder ­Nackenschüsse rauf und runter zur Eröffnung dieser 38. Baye­rischen Theatertage: in der Uraufführung „Kängurus am Pool“, geschrieben von Theresia Walser im Auftrag des gastgebenden ETA Hoffmann Theaters. Diese Rollläden gelten als „Überreste der Zugbrücken“, nur dass rauf und runter ihre Bedeutung vertauschten.

Zur Not tut aber auch ein breiter geschlossener Lamellenvorhang seinen Abschottungsdienst, vor dem uns tags darauf die zum Triptychon aufgeklappte Persönlichkeit einer zur Empathie unbegabten jungen Frau drinnen „das sogenannte Draußen“ erklären will, obwohl es ihr selbst nichts mehr sagt: in Sibylle Bergs „Und jetzt: die Welt!“ vom Mainfranken Theater Würzburg.

In Walsers Stück hat der Handelsreisende Ellrod immer ein kleines Messerchen dabei: „Falls ich mir irgendwo die Pulsadern aufschneiden muss.“ Bergs Frau berichtet vom früheren gewalttätigen Leben etwa so: „Gemma ritzte sich, ich die Nachbarskinder. Das Messer haben wir uns geteilt.“

Walser lässt eine Pistole im Postpäckchen anliefern, die ein dementer Zahnarzt unerwartet auf die Hausgemeinschaft richten wird. Nicht in Bergs Text, aber in dessen Würzburger Inszenierung holt die junge Frau am Ende eine Pistole aus dem Geburtstagspäckchen für ihren in den Keller gesperrten Ex-Stiefvater, der auch wir alle sein könnten, und bietet sie mit vergifteten Liebesgrüßen für den finalen Rettungsschuss an.

Derart fallen in der Disposition zwei Theaterereignisse (von insgesamt 30 an 16 Tagen) im Programm zufällig zusammen: auch räumlich benachbarte Stücke, auf Großer Bühne und im Studio, als kommunizierende Erschöpfungs- und Erlösungsfantasien zur Lage der Nation in selbst gewählter oder von Umständen verordneter Isolation. Walsers Hausgemeinschaft lebt mehr schlecht als recht mit den Folgen von Pest und Lieferengpässen. Solcher Fluch erschiene Bergs Figur als Segen: „Wir sollten da draußen alle nicht mehr mitmachen“, fordert sie. Auf- oder ­Ausbruch werden aber hier wie dort auf ein ungewisses Morgen vertagt.

Das sind bemerkenswerte Signale zum Auftakt dieser Theatertage, wie sie der Bühnenverein dem Freistaat seit 1983 beschert: ein Jahr später zum ersten, in diesem Mai zum siebten Mal in und von Bamberg ausgerichtet. Sollten sie doch auch vom Neu- und Wiederdurchstarten künden, nachdem eine Pandemie aus- und das Theatergeschäft einigermaßen einbrach. Endlich wieder volle Häuser und uneingeschränkte Begegnung von Angesicht zu ­Angesicht. Bestandsaufnahme, Leistungsschau, Selbstvergewisserung. Viel neue Zuversicht.

Und dann Botschaften wie diese: „Wir leben in einer ab­gespielten Welt.“ Theresia Walser beschreibt „dies Theater mit Namen Leben“, dem sie Texte ablauschte, um sie zu Szenen zu verdichten, in denen das Theater als Metapher, Referenzort, Spiel­ebene reüssiert – und der Hornist eines aufgelösten Opernorchesters als Paketbote umherirrt. Die arbeitslose Architektin Elly fühlt sich im Innenhof wie auf einer Bühne: „Fehlt nur, dass ich mich noch verbeuge.“ Was das Leben betrifft, beansprucht sie keine Hauptrolle mehr: „Auf der Bühne kann man auch noch stehen, wenn man nicht mehr an der Rampe steht.“ Herr Ellrod rechnet mit Krisenopfern: „Wer weiß, wer da noch auf der Bühne steht, wenn der Vorhang sich wieder öffnet?!“ Der verunsicherte Ver­sicherungsmakler Säm bezweifelt, „ob es dann überhaupt noch eine Bühne gibt“.

Immerhin gibt oder gäbe es da ein Sprungbrett, das reichlich ungenutzt übern offenen Orchestergraben ragt. Bambergs Intendantin Sibylle Broll-Pape als Regisseurin und ihre Ausstatterin Trixy Royeck setzen hier den Stücktitel ins Bild: zwei Kängurus am Pool, mit Longdrinks im Liegestuhl. Sie sind Sinnbild eines absurden Aufstiegsversprechens, manifestiert in kürzlich zu Reichtum gelangten Mietern, die in eine Villa zogen und nun den Tratsch im Treppenhaus befeuern.

Ansonsten redet man gepflegt aneinander vorbei. Viele ­Dialoge, wenig Dialog. Ein jeder nur des anderen Stichwortgeber in diesem aufgeschnittenen Mehrfamilienhaus, das Royeck im Patchworkstil verschachtelt auf die kleine Drehbühne zimmerte. Routiniert rotiert es zwischen den Szenen: eine Spieluhr im Walzertakt des Musikers Ingmar Kurenbach, der auch eine Steel-­Gitarre derart einspielte, dass vorm inneren Auge Tumbleweed durch die entleerte Gegend rollt. Die Bewohner huschen dazu durch Flure, verschwinden hinter Türen, haben nichts zu tun und sind sehr geschäftig dabei.

Ihre Leichen liegen nicht im Keller. Ein Bankangestellter nahm sich im obersten Stock den Strick, ein verschwundener Sohn wirkt lebendig noch im Tod, derweil Ellrod wie Norman „Psycho“ Bates eine siechende, aber lebende Mutter vortäuscht – so wie diese Inszenierung insgesamt mit vorgetäuschter Lebendigkeit umzugehen hat.

Sibylle Broll-Pape verweigert uns die falsche Spur einer Art Screwball-Komödie, die mit Walsers pointierten Dialogen frech auszulegen auch möglich wäre. Sie setzt auf eine gekünstelte Welt, wobei oft unklar bleibt, was Konzept, was Mangel sein könnte. Es herrscht ein (bewusst gesetzter?) falscher Ton, wenn etwa unvollendete Sätze ohne Auslassungspunkte gesprochen werden: Wo noch etwas kommen können sollte, mag das heißen, kommt definitiv nichts mehr. Punkt.

Größtes Interesse im Ensemble von fünf Frauen und vier Männern mag Clara Kroneck als soziophobe Lehrerin Sonja stiften; sie saugt Galgenhumor aus schlechter Laune. Sie trifft sich darin gewissermaßen mit Anouk Elias, Jojo Rösler und Sina Dresp, die in der Würzburger Sibylle-Berg-Inszenierung Kulturkritik aus soziophober Position entäußern. Die sogenannte Textfläche einer bipolaren Persönlichkeit gerät in Catja Baumanns Inszenierung furios zum tripolaren Monolog, in einer wütenden Revue der Sehnsucht nach Liebe, die in Hass umschlägt.

„Während des Textes wird gefilmt“, heißt es bei Berg. Es gibt darin Chats, SMS, Telefonate. Und in dieser Inszenierung: keine Kamera, keinen Bildschirm, nur einen Overhead-Projektor. Die digitale Verbindung ins Draußen wird hier, unterstützt von Licht und Klang, einfach erspielt – und diese Aufführung somit zum starken Kontrapunkt in den Bayerischen Theatertagen, die auch pandemieverstärkten Trend zur neuen Form aufnehmen.

Wolfgang Maria Bauer und Stefan Tilch zeigten ihren Theaterspielfilm „Die Ehe des Herrn Bolwieser“, der im Lockdown am Landestheater Niederbayern entstand. Die Münchner Kammerspiele waren digital vertreten: mit Luis Krawens Videoinstallation „The Shire“ vor dem Theater und Jan-Christoph Gockels live auf Bambergs Bühne gestreamtem Deutschland-Togo-Abend „Wir Schwarzen müssen zusammenhalten – Eine Erwiderung“. Das Kollektiv punktlive aus Freiburg im Breisgau bot online seine interaktive Social-Media-Version zu Tschechows „Möwe“ an, koproduziert vom Staatstheater Nürnberg. VR-Brillen, auf denen David Mamets Machtspiel „Oleanna“ im Prunksaal einer historischen Bibliothek und vor dem Hühnerstall ausgefochten wird oder Einar Schleefs kurzer Monolog „14 Vorhänge“ das leere, entkernte ­Theater befragt, entsendete das Staatstheater Augsburg (siehe auch TdZ 4/2021).

Man wollte „digitale Formen in der Gemeinschaft erproben“, so Bambergs Leitende Dramaturgin Victoria Weich. Und sei es nur, wie im Falle Augsburgs, durch den Austausch danach. Weich, die zum Ende der Spielzeit nach Münster wechselt, spricht für ein fünfköpfiges Auswahlgremium, das seit dem Frühsommer 2021 insgesamt 100 Sichtungen tätigte. Das ist neu. Nach 2018 wechselten die Theatertage vom Ein- in den Zweijahresrhythmus sowie nun in die Form des kuratierten Festivals. „Das bringt den Diskurs nach vorne“, erhoffte sich auch Weich.

Zuvor entsendeten Bühnen, was ihnen dispositorisch und/oder hauspolitisch in den Kram passte. Bereits für die Theatertage 2020 am Landestheater Schwaben in Memmingen war das Programm derart ausgewählt worden, bevor es der Pandemie zum Opfer fiel. Auch mit der Sichtung für Bamberg ist man noch mal „voll reingebrettert in die Corona-Einschränkungen“. Zudem standen oft auf Abstand inszenierte Abende sowie kleine und kleinste Besetzungen zur Auswahl. Pandemieunabhängig kommt hinzu, dass selbst eine Große Bühne wie jene Bambergs vergleichsweise klein sein kann.

Einstweilen bleibt es aber dabei, so viele Häuser wie möglich zu berücksichtigen, auch die vom Verband Freie Darstellende Künste Bayern vertretenen Gruppen sowie private und Tournee-Theater. Künftigen Bayerischen Theatertagen wünscht Weich, „mehr auf initiative Sichtungen durch das Auswahlgremium ­setzen zu können, als von Einreichungen abhängig zu sein“.

Entstanden war gleichwohl ein dezidiert zeitgenössisches Festival für Bamberg. Spielarten des Gegenwartstheaters dominierten deutlich, selbst in den rar gesäten tradierten Stoffen wie jener Online-„Möwe“ oder einem „Peer Gynt“ als Bearbeitung für drei Herren im freien Bamberger Theater im Gärtnerviertel. Eine Regensburger „Dreigroschenoper“ von Schauspielchef Klaus ­Kusenberg dürfte der vergleichsweise konservativste Beitrag gewesen sein, allerdings mit Katharina Solzbacher als Macheath. Rostands unverwüstlicher „Cyrano de Bergerac“ hingegen kam als intelligente Mogelpackung daher: als ein Spiel „für zwei Einsamkeiten“ von Federico Bellini und Antonio Latella aus dem Marstall des Residenztheaters München.

Florian von Manteuffel und Vincent Glander heben auf ­leerer Bühne gleichsam zur höchst aktiven, wortwilden Medita­tion über eitles Theater an, im Schnellsprech-Duktus und mit gepflegter Publikumsbeschimpfung inklusive. „Ich bin allein“, tönt wiederholt Manteuffel, der Cyrano-Pfau. Das ist keine Klage, mehr eine Forderung: Wenn schon ein reduziertes, ein entkerntes Stück, dann lieber gleich ein Solo …! – Stattdessen: ein vorzüg­liches Duett als Duell um des Zuschauers Gunst, mit dem Florett und dem Holzhammer der Sprache sowie mit Bühnenmodellen des Resi und des Cuvilliéstheaters als fahrbaren Untersätzen.

An solchen Abenden triumphiert das Theater sogar über die abgespielte Welt. Und in Theatertagen wie diesen mag ohnehin die Hoffnung, gar die Zuversicht liegen: Wenn sich ein alter Rollladen schließt, öffnet sich immer noch ein neuer Vorhang. //

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