Theater der Zeit

Auftritt

Hebbel am Ufer: Jeder Bruch ein Abgrund

„Ich nehm’ dir alles weg – Ein Schlagerballett“ von Joana Tischkau – Künstlerische Leitung & Choreografie: Joana Tischkau, Sound Frieder Blume, Bühne Carlo Siegfried, Kostüme Nadine Bakota, Lichtdesign, technische Leitung Hendrik Borowski, Mitarbeit Regie Anta Helena Recke

von Nathalie Eckstein

Assoziationen: Tanz Performance Freie Szene Theaterkritiken Joana Tischkau Hebbel am Ufer (HAU)

Moses Leo in „Ich nehm’ dir alles weg – Ein Schlagerballett“ von Joana Tischkau. Foto Lennard Brede
Moses Leo in „Ich nehm’ dir alles weg – Ein Schlagerballett“ von Joana TischkauFoto: Lennard Brede

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Moses Leo läuft nach vorn zur Rampe. Die Bühne (Carlo Siegfried) ist leer bis auf den Schriftzug „BLANCO“ aus überdimensionalen Buchstaben, die schräg abfallend diagonal in der Bühnenmitte, stehen. „Blanco“ wie in Roberto Blanco, genauso wie im spanischen Wort für „weiß“. Die Buchstaben, das „B“ als größter mehr als zwei Meter hoch, lassen sich in verschiedenen Farben anleuchten. Vorn angekommen, wird Moses Leo scheinbar erschossen, läuft zurück hinter die Buchstaben, kommt wieder vor, geht wieder wie unter Schüssen zu Boden. Das geht minutenlang so, der Rest des Ensembles kommt dazu, ihnen passiert dasselbe. Zeitweise sprechen sie trikolonische Wortreihungen ins Mikrofon vorn an der Bühne: „Doppelgänger, Zeitgeist, Ballermann“, unübersetzbare deutsche Wörter, „Eierschecke, Fliesentisch, Haftbefehl“.

Joana Tischkau, gerade mit dem Tabori-Preis ausgezeichnet, erzählt in „Ich nehm’ dir alles weg – ein Schlagerballett“ gemeinsam mit ihrem Ensemble in einer Art Nummernrevue von den Abgründen des deutschen Schlagers. Dass der Schlager nicht nur Schunkeln und wohliges Heimatgefühl ist, dürfte klar sein. Die von ihr bekannte Methode der Aneignung und Umdeutung bietet sich hier geradezu an. Verschnitten werden die rassistischen, nationalistischen Abgründe der Heimathits, die in ironischen, cleveren Kommentaren allein qua Besetzung ausgespielt werden, mit Pina Bauschs Tanztheater – in Anta Helena Reckes Kopiermethode angeeignet und verwandelt. Der bekannte „Nelken“-Gang aus dem gleichnamigen Stück von 1982, der die vier Jahreszeiten in Bewegung transformiert, wird hier mit einem Rap-Beat unterlegt. Die Gesten sind Fingerpistolen und Hände, die Hälse abschneiden. Wegnehmen und wiederaneignen also. Dass dabei ein besonderer Fokus auch auf Schwarzen deutschen Schlagerstars liegt, sind Referenzen, die über die Köpfe all derer fliegen, die sich generell nicht mit Schlager auskennen.

Und es gibt noch mehr Bausch-Motive: Dayron Domínguez Piedra wird von den liegenden Kolleg:innen über Kopf weitergegeben in einem Kleid, auch die anderen Kostüme (Nadine Bakota) wie zu große Sackos oder Männer barfuß in Frauenkleidern erinnern an die Ästhetik von Pina Bausch. Sie kommt sogar selbst vor, gespielt von Sophie Yukiko, rauchend, stilisiert, stellt sich damit vor, dass das Anagramm ihres Namens „pain“ sei.

Die vielen detaillierten Schlageranspielungen und popkulturellen Referenzen folgen Song nach Song aufeinander, immer mit einem Bruch, in dem sich ein Abgrund auftut. „Schlager“ sei nur die deutsche Übersetzung des „Hit“, heißt es am Anfang, dann folgen Wortspiele übers Schlagen, ein eleganter Gehstock der Roberto-Blanco-Figur stellt sich als Baseballschläger heraus. Ein Hall auf dem Mikrofon, ein zu helles Arbeitslicht auf den nackten Wänden der Bühne des Hebbel am Ufer, die Wiederholung rassistischer Stereotype in Schlagersongs wie in „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ (ebenfalls Moses Leo) rezitiert in einer Strandszene. Das hat eine Dringlichkeit, die aufrüttelt und auch Fragen nach dem Land stellt, in dem wir leben, in dem Migrationsdebatten populistisch verkommen.

In der Betrachtung der rund 80-minütigen Performance, die auch ob ihrer Struktur als Songfolge wie eine Schlagershow anmutet, wird ein vornehmlich weißes Publikum über die Entfremdungsstrategien der Arbeit mit dem eigenen Weißsein und dem eigenen kulturellen Erbe konfrontiert. Das gelingt insofern gut, als dass es die Selbstverständlichkeit, mit der menschenfeindliche Stereotype in Schlagern nach wie vor erfolgreich kolportiert werden. Pina Bauschs Tanztheater aber verkommt eher zu einer inszenatorischen Methode.

Trotz guter künstlerischer Leistung wie einer minutenlangen Lachperformance (ebenfalls Sophie Yukiko), bei der sich schließlich die Machtverhältnisse aus Blicken umkehren und das Publikum ausgelacht wird, und trotz stimmgewaltigem sängerischem Können von Sidney Kwadjo Frenz könnten gerade die Pina-Bausch-Referenzen genauer pointiert werden. So bleibt es vage, weder Hommage noch Persiflage.

Welche Stereotype der Schlager als nationales und nationalistisches Kulturmoment und ausgrenzendes, abgründiges Samstag-Abend-Programm im deutschen Fernsehen bedient, wird deutlich. Welche Kritik an Pina Bauschs Werk, außer der an selbststilisierten, ätherischen, rauchenden Frauen, muss offenbleiben.

Erschienen am 24.9.2024

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