Theater der Zeit

Protagonisten

Die Wunderintendantin

Anna Badora holt das Volkstheater Wien aus der Bedeutungslosigkeit

von Margarete Affenzeller

Erschienen in: Theater der Zeit: Am Nullpunkt – Alain Badiou, Philippe Quesne, Joël Pommerat, Du Zieu (01/2016)

Assoziationen: Österreich Sprechtheater Akteure

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Das Wiener Volkstheater, knapp 700 Meter Luftlinie vom Burgtheater an der verkehrsreichen Museumsstraße gelegen, war immer das Problemkind unter den Theaterhäusern der Stadt. Die hohe Anzahl von knapp 1000 Sitzplätzen verursachte dem schmucken Fellnerund-Helmer-Bau stets eine triste Auslastungsbilanz. Zudem hatte das zuletzt von Michael Schottenberg geleitete Haus an chronischer Unterdotierung zu leiden. Es gelang auch nie wirklich, überregional Relevanz zu erlangen.

Schottenberg, der seine letzten Produktionen bei maroder Technik und undichtem Dach zu bewerkstelligen hatte, folgt nun Anna Badora nach, die Wunderintendantin aus Graz. Am dortigen Schauspielhaus hat sich die gebürtige Polin als veritabler Talentscout erwiesen. Badora hat unter anderem den ungarischen Regisseur Viktor Bodó entdeckt oder die nun in Berlin beheimatete israelische Regisseurin Yael Ronen. Am Volkstheater, wo sie in den ersten beiden Monaten ihrer Intendanz satte zehn Premieren vorstellte, ist es nun Dušan David Pařízek, der amtierende „Regisseur des Jahres“, den sie in weiser Voraussicht dem Burgtheater abspenstig machte. Nota bene lief auch die „Schauspielerin des Jahres“, Stefanie Reinsperger, von dort zu ihr über. Was will man mehr? Natürlich Geld für die Sanierung. Diese ist nun auch auf Schiene, die Stadt Wien schießt zur Gesamtsumme von 35 Millionen Euro deren zwölf bei.

Der einzige Schönheitsfehler in diesem rundum glückhaften Auftakt war es, dass Anna Badora beim Aus-der-Taufe-Heben der Spielzeit nicht Regisseur Pařízek den Vortritt gelassen, sondern die Eröffnungsinszenierung zur Chefinnensache erklärt hat. Dabei schien es eigentlich eine fabelhafte Idee zu sein, mit einem fast vergessenen Werk der österreichischen Nachkriegsliteratur, Gerhard Fritschs Roman „Fasching“, den Neuanfang in Wien zu bestreiten. In „Fasching“ gerät der fahnenflüchtige Soldat Felix Golub (doppelt besetzt mit Nils Rovira-Muñoz und Nikolaus Habjan samt Golub-Puppe) in die Fänge einer sexuell aufgekratzten Generalswitwe (Adele Neuhauser), die sich den jungen Mann zum Hausmädchen drapiert, ihn zu ihrem Liebhaber macht und so zum untauglichen Geschöpf degradiert. Das ruft nach dem Krieg eine denunzierungslüsterne und latent faschistoide Meute auf den Plan.

Die Intendantin Badora ist der Regisseurin Badora allerdings deutlich überlegen. Betulich und behäbig blieb die Premiere dieses Deserteursdramas: Bekritzelte Vorhänge werden zum Szenenwechsel auf- und zugezogen, hereingeschobene Strichzeichnungen illustrieren Schauplätze. Ein abstrakter Balkenrahmen rollt auf der Bühne vor und zurück, um Bewegung hineinzubringen, wo inszenatorisch eher Ratlosigkeit herrscht. Auch nützt sich die stark karikaturhafte Zeichnung der Figuren rasch ab.

Deutlich mehr künstlerische Entschlossenheit trugen Thomas Bernhards „Alte Meister“ in sich, dieses unheimlich komisch wirkende, im Wiener Kunsthistorischen Museum angesiedelte Redeballett des Kunstphilosophen Reger, widergespiegelt im Museumswärter Irrsigler. Bei dem aus Brünn stammenden und am Volkstheater nun bereits mit drei Arbeiten vertretenen Regisseur Dušan David Pařízek gehen steile konzeptuelle Behauptungen meist mit rigoroser Aussparung Hand in Hand. Pařízek gibt auch den „Alten Meistern“ am Volkstheater Auftrieb durch Entschlackung. Keine grünsamtige Museumssitzbank aus dem Bordone-Saal, kein Tintoretto-Gemälde ziert die Bühne dieser Dialogfassung, sondern drei Leinwände, auf die Overheadprojektoren ihr Licht werfen. Sie zeigen wechselnde Close-ups von Körperstellen, von Augen oder Haaren, das nackte Leben. Es ist wohl die eigene arme Haut, die da von der Wand herunterglotzt. Denn wer Kunst betrachtet, so Reger, betrachtet letztlich sich selbst.

Pařízek hat in dieses anämische Duett frisches Blut gepumpt. Mit zwei aus einer minimalistischen Körperkomik heraus die Verspannungen und Schieflagen des Lebens geradezu herbeitänzelnden Schauspielern, Lukas Holzhausen und Rainer Galke, ist es gelungen, die Altherren-Imprägnierung dieses 1985 erschienenen Romans wegzusprengen. Hier ersteht ein Thomas Bernhard jenseits königlich ausgestatteter Männerwelten, wie sie Claus Peymann einst mit Bühnenbildner Karl-Ernst Herrmann prägte. Am Ende schöpft Pařízek aus diesem Männersermon gar eine Hommage an die Frauen, eine sonst grobe Leerstelle in Bernhards Werk, und zeigt ein gebrochenes Männerbild.

Den achtbaren Start verdankt das Volkstheater auch der Wiederaufnahme von drei bereits bewährten Produktionen. Das wäre zum Ersten „Nora³“ aus Düsseldorf, die von Elfriede Jelinek um einen Epilog erweiterte Ibsen-Neudichtung, ebenfalls verantwortet von Dušan David Pařízek. Darin macht die instinktsichere Gattin eines Bankdirektors in spe Schluss mit Bevormundung und vorgeblicher Beschützung. Stefanie Reinsperger, nach ihrem durchschlagenden Burgtheatererfolg („Die lächerliche Finsternis“) nun Ensemblemitglied des Volkstheaters, verleiht diesem Befreiungsschlag das nötige Pulver. Was den Text dabei so nahe an das Publikum heranführt, das sind auch die von Pařízek immer wieder bewusst eingesetzten Sprachfärbungen der Schauspieler: Die Arbeiter der Textilfabrik, in der Nora künftig ihren Lebensunterhalt zu verdienen gedenkt, sitzen verstreut im Publikum und drücken Selbstbewusstsein und Kampfgeist aus, indem sie so reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist: Schweizerdeutsch, Schwäbisch, Wienerisch.

Aus Graz mitgenommen hat Badora auch die bereits mit einem Nestroy-Preis ausgezeichnete Komödie „Hakoah Wien“. Sie schließt auf entwaffnend komische Weise die Israelfrage (Behauptung des Staates, Landesverteidigung etc.) mit dem Fußballspielen kurz. Yael Ronens Arbeit (entstanden mit dem Ensemble) gewinnt ihren Reiz vor allem aus der ungenierten Verquickung von weltpolitischem und privatem Chaos und einem ganz unverkrampften Narrativ, das sich herzhaft mit jüdischer Identität und Geschichte befasst.

Auf Nummer sicher gehen konnte das Volkstheater auch im Fall von „Das Missverständnis“. Das Stück von Albert Camus erzählt von zwei Frauen, die ihre Pensionsgäste ausrauben und töten, um sich irgendwann den Traum vom freien Leben irgendwo am Meer erfüllen zu können. Die Besonderheit dieses Theaterkrimiabends liegt in seiner bezwingenden Machart von integralem Schauspieler- und Puppentheater. Sie verdankt sich ganz dem phänomenalen Puppenspieler (und hier auch Regisseur) Nikolaus Habjan. Spannend wie ein Hitchcock-Thriller zieht die fatale Geschichte um einen nach langer Zeit unerkannt zu Mutter und Schwester heimkehrenden Sohn vorbei. Die Tragik des Mordes liegt im Umstand, dass die beiden Frauen vom wahren Tatbestand unbehelligt bleiben, also ihren Sohn und Bruder unerkannt töten.

Schauspieler- und Puppenkörper fließen in eins zu einer zweigesichtigen Figur und tragen so die Doppelgleisigkeit ihres Verhaltens stets am eigenen Leib, die Fassade einerseits, die verborgenen Absichten andererseits. Mit filigranen Bewegungen im Zusammenspiel von Puppe und Spieler gelingen Habjan nicht nur bezwingende Interpretationen eines maroden Lebens, sondern auch bildnerische Meisterstücke, in denen Tot- und Lebendigsein Hand in Hand gehen.

Mit dem „Marienthaler Dachs“ von Ulf Schmidt hatte das Volkstheater weniger Glück. Volker Löschs Inszenierung des Arbeiterkampfstücks verlor sich ganz in der grellen Mechanik seiner Abläufe. Auch blieb die Insiderkomödie „Ihre Version des Spiels“ von Yasmina Reza (perfide Journalistin befragt geduldige Star-Schriftstellerin) auf der Nebenspielstätte Volx/Margareten seltsam fahl. Die Dependance, bisher ein Stiefkind des Hauses, gab dennoch bisher kräftige Lebenszeichen von sich: Das Terrorismusstück „God Waits at the Station“ von Maya Arad (siehe Stückabdruck und Gespräch ab S. 44) untersucht auf einer engen Laufstegbühne in schnellen, präzisen Szenen und Dialogen die Vorgeschichte eines Selbstmordanschlags (Regie Hannan Ishay). Der Spur des Dokumentartheaters folgt das Volkstheater mit „Nachtschicht“, einem sympathischen, informativen Projekt von Jessica Glause, in dem Wiener Nachtarbeiter/-innen ihren Alltag performativ vorstellen. Dabei fallen auf schöne, stimmige Weise Kunst und Statistik, Theater und Soziologie, Schauspieler und Mensch in eins. //

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