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Schaubühne Berlin: Komik unterm Laubwerk
„Die Möwe“ von Anton Tschechow – Regie Thomas Ostermeier, Bühne Jan Pappelbaum, Kostüme Nehle Balkhausen
von Thomas Irmer
Erschienen in: Theater der Zeit: Freie Szene – Occasions – Ereignisse im Raum (04/2023)
Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Nehle Balkhausen Thomas Ostermeier Jan Pappelbaum Joachim Meyerhoff Schaubühne am Lehniner Platz
Der erste große Auftritt ist ein Baum. Eine riesige Platane, deren Blätterwerk die vorderen Reihen des Sitzhalbrunds überwölbt und so einen Teil der Zuschauer gleichsam als Raumbaum einbezieht. Jan Pappelbaum hat ihn mit höchster Handwerkskunst bauen lassen, und seine Naturähnlichkeit ruft selbstverständlich die legendären Birken in Peter Steins „Drei Schwestern“ von 1984 mit auf. Alles spielt unter dem mächtigen Baum, den man sich irgendwo in der Nähe Berlins denken kann, denn außer den Figurennamen gibt es hier nichts Russisches. Thomas Ostermeier hat den Schauspielern die Aufgabe gestellt, ihre Figuren aus der Übersetzung von Ulrike Zemme nach eigenen Vorstellungen für die Gegenwart weiterzuerzählen.
Das ist vielleicht nicht immer ganz gelungen im dann wieder Zusammenschließen der so entstandenen Erfindungen. Eine der schwierigsten Szenen des Stücks, nämlich wie Kostjas avantgardistisches Theaterstück in neuen Formen gezeigt wird, entscheidet ganz wesentlich mit darüber, ob der Kunst- und Theaterdiskurs in dem Stück ernst zu nehmen ist. Kostjas „Menschen Löwen Adler Rebhühner“ geht hier zwar eindeutig in Richtung Öko-Apokalypse, aber die Performance, die Laurenz Laufenberg in einem Nylonstrumpf-Kostüm auf einem aufblasbaren Pferd aufführt, während Alina Vimbai Strähler als Nina in einem mit Strandmüll besetzten Kleid auf einem Ast steht, wirkt in ihrer grellen Unbeholfenheit beinahe denunziatorisch. Das kann natürlich nichts werden mit der Zivilisationswarnkritikkunst. Und die Arkadina, die Stephanie Eidt entschlossen als Star zweiten Ranges spielt, dreht sich bei ihren höhnischen Kommentaren um Zustimmung heischend nach hinten zum Publikum.
Damit wird der Boden bereitet für den eigentlichen Star des Abends, Joachim Meyerhoff als Schriftsteller Trigorin, den man in dieser Ausführlichkeit so noch nie erlebt hat. Meyerhoff, der zunächst etwas linkisch in die Theaterszene tritt, verfügt ja mit jedem Wort und jeder Geste über eine Triple-Präsenz: Der erfolgreiche Schauspieler, der zugleich ein erfolgreicher Schriftsteller ist, und mit dieser Ausstattung den erfolgreichen Trigorin spielt, der mit sich unzufrieden ist und die eigenen Bücher eigentlich nicht lesen würde. Aus der Schriftstellerwerkstatt blättert er ein System von Karteikarten für Notizen und Beobachtungen auf den Tisch, die Lesebrille stets auf der äußersten Nasenspitze, dabei gern auch schon ein paar Bierchen tagsüber. Eine Spitzweg-Figur im Selbsterklärungsrausch, zu dem ihn die bewunderungsnaive Nina provoziert. Natürlich dazu noch der Typ Künstler „bin eigentlich ganz anders, komme aber so selten dazu“, der auf dem Land den passionierten Angler gibt. So ist der dreifache Meyerhoff nicht mehr zu stoppen und nicht mehr zu toppen.
Das verzerrt das Handlungsnetz verfehlter Liebe, mit dem Ostermeier sein Ensemble doch immer wieder zusammenbringt. Die in Kostja verliebte Mascha von Hêvîn Tekin wartet wohl in ihrer schwarzen Kleidung auf die nächste Gelegenheit zum Absprung mit dem Regionalexpress Richtung Berlin und geht dann doch mit dem biederen Lehrer, den Renato Schuch als überfürsorglichen Kleinkindvater spielt, die Ehe ein. Ihre Eltern sind schon fast am Ende ihrer Ehehölle – die Polina von İlknur Bahadir zeigt einmal ein blaues Auge, mit ihrem Mann, dem schwer berlinernden David Ruland, der als Gutsverwalter dem Schriftstellerschnösel gern mal so richtig eine reinhauen würde, möchte man sich lieber nicht anlegen. Axel Wandtke spielt den Arzt Dorn sehr beherrscht mit der Diagnose, dass hier keinem mehr zu helfen ist, und Thomas Bading als siecher Sorin versieht seine bittere Lebensbilanz mit rührender Komik.
Komik ist ein weites Feld und entsteht hier vor allem, wie oft bei Ostermeier, aus der sozialpsychologischen Zeichnung der Figuren. Die kann man ohne weiteres genießen, zumal sie auch einen bedeutungsvollen Bruch mit der immer noch im deutschen Theater gängigen Tschechow-Melancholie herstellt. Einer von den drei Meyerhoffs wird das vielleicht einmal beschreiben. Wäre interessant zu lesen.