Theater der Zeit

Auftritt

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: Im Salon und nach dem Rave

„Extinction“ mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal – Adaption und Regie Julien Gosselin, Bühne Lisetta Buccellato, Kostüme Caroline Tavernier, Musik Guillaume Bachelé, Maxence Vandevelde, Video Jérémie Bernaert, Pierre Martin Oriol

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater in Slowenien – Karin Beier: Antike als große Geste (10/2023)

Assoziationen: Berlin Theaterkritiken Julien Gosselin Volksbühne Berlin

Victoria Quesnel in „Extinction“ in der Regie von Julien Gosselin an der Berliner Volksbühne. Foto Luna Zscharnt
Victoria Quesnel in „Extinction“ in der Regie von Julien Gosselin an der Berliner VolksbühneFoto: Luna Zscharnt

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Julien Gosselin ist, was die Literatur angeht, aber mit der Musik gesprochen: ein Sampling-Künstler, der in großen Strukturen arbeitet. Nach dem eher kraftlosen Goethe-Thomas-Mann-Abend „Sturm und Drang“ im letzten Jahr hat er nun eine Jahrhundertspur der österreichischen Literatur komponiert, die wahrscheinlich auch der kühnste Essay nicht hätte entwerfen können.

Es geht mit einem vierzigminütigen Rave auf der großen Bühne los. Bummbumm – bumm – bummbumm, würde Rainald Goetz notieren. Irre laut, aber Freibier. Es funktioniert, denn tatsächlich scharen sich sofort Leute um den Tisch mit seiner von zwei Tonstapler:innen hastig befingerten Laptoplandschaft. Wer sich darüber nur wundern möchte, kann auch vom Parkett zusehen. Nur darf man dann den überraschenden Moment nicht verpassen, dass einer gerade gefilmten jungen Frau gesagt wird, sie solle mal in Wolfsegg anrufen. Mit diesem Signalwort endet der erste Teil.

Und es folgt ein völlig anderes Format: In feinen Schwarz-weiß-Filmbildern besichtigt eine Kamera Tote in einem Salon, erschossen, erhängt, erstochen, Suizid ist mehrfach zu vermuten. Schließlich beginnt – Sommer 1913 – in dem Salon hinter einer breiten Wand, mit anliegenden Bettgemächern und Boudoirs, ein live gefilmtes Bühnengeschehen, in dem Albertine und Florestan sich für den Maskenball in Schnitzlers „Traumnovelle“ ausgehbereit machen. Gespielt wird wie auf einem Filmset, mit der Kamera als komponierter Bildgestaltung. Die Schauspieler:innen sieht man nur gelegentlich am Rande dieses Aufbaus von Lisetta Buccellato, als ob man beim Drehen heimlich zuschauen und so auch mal einen Blick unter oder neben der Bildwand erhaschen würde.

Albertine (Carine Goron) und Florestan (Denis Eyriey) sprechen natürlich Französisch, und so werden mit dem Auftritt von Zarah Kofler als Fräulein Else nicht nur die Sprachen, sondern auch Einzelteile aus verschiedenen Werken Schnitzlers kombiniert. Das dritte Stück, das hier mit einem Gartenfest den Handlungsrahmen schafft, ist die „Komödie der Verführung“. Das ist alles sehr kunstvoll ineinandergefügt, aber letztlich zeigt diese Salongesellschaft in Variationen, dass das Ausleben von Begierden immer mit der Angst vor dem Verlust gesellschaftlicher Reputation oder irgendwelchen finanziellen Kalamitäten verbunden ist. Diese Schnitzler-Welt, so sehr sie auch gutes Schauspielfutter insbesondere für diese Filmbilder abgibt, bleibt fern und wirkt trotz des tollen Ensembles zunehmend auch langatmig dargestellt. Da ist der von Marie Rosa Tietjen als zuckender Ausdruckstanz vorgetragene sprach- und erkenntniskritische Chandos-Brief Hofmannsthals ein willkommener komischer Ausbruch.

Natürlich braucht Gosselin diesen Anlauf, um alles in der donnernden Apokalypse des Ersten Weltkriegs untergehen zu lassen, die hier – so laut wie der Rave am Anfang – akustisch über die Zuschauerreihen fegt (Sounddesign Julien Feryn). Worauf die Salongesellschaft wiederaufersteht und in alpenländischen Trachtenkostümen zunächst wie im Heimatfilm nach dem Zweiten Weltkrieg erscheint. Optisch ist das der irritierendste Sprung Gosselins, wenn der exzellent inszenierte Schwarz-weiß-Film so auf die wie koloriert wirkenden Farben des Films der 1950er Jahre umschaltet. Diesen Trachtenmenschen ist auf der Bühne keine so lange Lebenszeit beschieden wie ihren Salonvorgängern, denn ziemlich bald beginnen sie einander mit einer Axt umzubringen, wobei die Formation alle gegen einen aus dem Brauchtumstanz hervorzugehen scheint und trotzdem in einem Massaker der vielen endet. Der Text der österreichischen Literatur setzt hier auch aus.

Um mit großer Kraft im dritten Teil zurückzukehren. Rosa Lembeck sitzt auf einem Stuhl, allein auf einem kleinen Plateau auf der Bühne, um das fünfzig Leute aus dem Publikum nahe bei ihr sich setzen können. Ein Tisch mit Mineralwasser, wie bei einer Lesung im kleineren Kreis. Sie ist die junge Frau, die die Nachricht aus Wolfsegg beim Tanzen erhalten hat und nun in der Rolle des Franz-Josef Murau einen von Gosselin aus Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“ destillierten vierzig-minütigen Monolog spricht. Die Eltern mit Bruder gerade bei einem Autounfall umgekommen, hat diese Frau Murau sich längst der verhassten Herkunft in Wolfsegg entzogen und trägt nun – mit in sich selbst bohrenden Fragen statt mit Bernhards Furor – ihre Familiengeschichte vor. Die Stimme wird an manchen Stellen brüchig, die Arme fahren wie von Ratlosigkeit oder auch Selbstverteidigung geführt immer wieder in die Luft. Berührend und beeindruckend. Musik baut sich dazu ganz allmählich auf – von scheinbaren Störgeräuschen bis zur dann wahrnehmbaren minimal electronic, als feines Echo des Raves und Begleitung dieser Stimme.

Freilich ist dafür die erzählerische Anlage von Gosselin verändert worden, denn im Roman berichtet Murau vor allem, was er seinem Schüler Gambetti in Rom über sich und die Seinen erzählt hat, in indirekter Rede als Markenzeichen Bernhards. Hier ist es vielleicht eine direkte Anrede der Geschwister, aber vor allem in den riesigen Raum der Volksbühne hinein. Es ist auf jeden Fall eine neue Haltung mit und zu Bernhard, denn selbst mit der monumentalen „Auslöschung“ ist ja schon viel auf der Bühne gemacht worden, zum Beispiel erst im vergangenen Jahr am Deutschen Theater in der Regie von Karin Henkel.

Der 1987 geborene Julien Gosselin hat auf jeden Fall das Format fürs große Format, das die Volksbühne braucht. Und den Mut für diese disparaten Formen innerhalb eines fünfstündigen Abends. Natürlich hat er weder den Live-Film noch das große Sampling erfunden, aber er führt diese Sachen mit Vehemenz in die Gegenwart.      

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