Auftritt
Niederösterreichisches Landestheater St Pölten: Kafka konkret?
„Das Schloss“ – Regie Gernot Grünewald, Bühne Michael Köpke, Kostüme Leonie Kohut, Musik Daniel Sapir, Video Thomas Taube
von Lorenz Just
Assoziationen: Theaterkritiken Österreich Franz Kafka Landestheater Niederösterreich

Ein schwarzes Gerüst deutet ein Haus an. Lichtbalken im Bühnenhintergrund könnten eine Hochhausformation andeuten, Leitern, Gitterstäbe oder das Schloss? Abstraktionen in Schwarz-Weiß. Das erste sinnlich erfassbare Phänomen ist der Bühnennebel, der sich gestalthaft in den Raum schiebt und die Spielerinnen, die in weißen Gewändern auf das Erlöschen des Saallichts warten, verschluckt. Mit dem Einsetzen des Textes treten sie in die wenigen Lichtfetzen und fangen direkt an: Der Landvermesser betritt das Wirtshaus, doch niemand hat je von ihm gehört. Der Landvermesser wird hier kein Landvermesser mehr sein, sondern nur ein Fremder, der nirgends hingehört.
Die Herausforderung, der Gernot Grünewald sich am niederösterreichischem Landestheater St. Pölten stellt, scheint hoch. Die Inszenierung von Kafkas Schloss soll, so die Ankündigung des Theaters, ein „sinnlich-poetisches“ Erlebnis werden. Ein sinnlicher Kafka? Sind es nicht gerade die Sinne, die bei Kafka von Paranoia, Besessenheit und einer sich labyrinthisch entziehenden Welt sabotiert werden? Bewegt sich Landvermesser K. nicht in einer Dorfgesellschaft zu Fuße des Schlosses, der die Sinne nicht trauen können. Alles ist immer anders, als es aussieht; der Klang einer Rede könnte alles Mögliche bedeuten. Was hat wer gesagt? Sinnlich im herkömmlichen Sinne kann es also kaum werden.
Die Bühne (Michael Köpke) unterläuft gleich alles, was gemeinhin mit Sinnlichkeit verbunden wird. Die nur auf den ersten Blick einander gleichenden Kostüme (Leonie Kohut) machen feine Unterscheidungen zwischen den Schauspielerinnen. Drei der weißen Gewänder verweisen auf traditionelle Kostümierungen. Eine breite Clownskrause, ein Reifrock, ein Cocktailkleid mit Haube wie aus den Salons der Zwanziger Jahre. Diese drei (Caroline Baas, Marthe Lola Deutschmann, Julia Kreusch) können alles sein und jederzeit jede Rolle annehmen, was sie auch tun. Nur K. (Bettina Kerl) trägt eine Art weißen Daunen-Poncho, der sich in seiner Neutralität nicht einordnen lässt, es ist ja auch K., der Fremde, ohne Identität. Dass es vier Frauen sind, die alles spielen, erweist sich auf völlig unaufgeregte Weise als richtig. Einmal unterstreicht es die formale Basis, von der ausgespielt wird, sodass die Frage, warum ausgerechnet K. cross-gender besetzt ist, gar nicht aufkommt. Inhaltlich ist es eine Setzung gegen die Misogynie, die bei Kafka mitunter deutlich aufscheint, und ein Zeichen der Solidarität mit seinen weiblichen Figuren, die es niemals leicht haben.
Eine weitere Ebene zeigt sich in den Videoprojektionen (Thomas Taube), die auf Gaze ins karge Bühnenbild integriert sind. Auf der Giebelwand des angedeuteten Hauses erscheinen nun filmreif kostümiert und in voller Farbenpracht mal die Wirtin und mal Olga in leuchtendem Blau. Auf einer weiteren Gaze, die wie ein Vorhang heruntergelassen wird und das Bühnengeschehen tiefer noch ins körnige Licht auflöst, kommt Barnabas im samten grünen Gewand gerannt. Winzig klein noch in der Ferne kommt er überlebensgroß vor K. zum Stehen, um Nachricht vom Beamten Klamm zu übermitteln. In ihren historisch-authentisch anmutenden Kleidern stechen die projizierten Figuren aus der Abstraktion hervor, wirken lebendig. Eigenständig interagieren sie mit K., wofür sie sich die Stimmen der Spielerinnen leihen, die in ihren wehenden Kleidern immer eine ins Gespenstische gleitende Präsenz im Dunkel des Bühnenraums bewahren. Natürlich sind sie, Lichtwesen der Videokunst, nie wirklich da. Dieses fein ausbalancierte Spiel mit Präsenz und Abwesenheit, mit Abstraktion und Konkreten wird begleitet von der Monotonie eines kaum vorhandenen Glockenspiels (Daniel Sapir). Wie ein schwacher, nie abreißender Regen scheint die Musik unabhängig vom Geschehen zu sein, wird niemals Filmmusik, die emotional verstärkt und untermalt.
Die dominanteste Ebene des Abends aber bleibt der Text. Er wird in hohem Tempo und nahezu pausenlos in dieser Theaterfassung des Romans vorgetragen. Denn es ist ein Text, der Pausen fürchtet, da er sich in einer Situation behauten muss, die permanent zerfällt: Der Landvermesser, der das Land, auf dem er steht, nicht vermessen darf oder kann, der im Sinne des Wortes und seines Tuns kaum Landvermesser genannt werden dürfte, ohne Geräte, ohne fähige Gehilfen. Dessen spurloses Verschwinden weniger stören würde, als sein störrisches Insistieren auf einen Platz in dieser Welt. In schneller Abfolge treten immer weitere Figuren auf, die jeweils Wiedergänger desselben Typus sind. Gehilfen, die nicht helfen wollen oder können. Vorgesetzte, denen Macht unterstellt wird, die sich jedoch hinter vorgeblicher Machtlosigkeit verbergen. Frauen, die sich lockend den Männern, denen sie ausgeliefert sind, zu entziehen versuchen.
Kafka verdichten? Aufs Wesentliche pointieren? Es ist möglich; herauszitierte Sätze werden zu abgründigen Sentenzen, doch die seltsame Überzeugungskraft des „Schlosses“ wird dadurch geschwächt. So wirkt der gekürzte Text übervoll und zugleich zusammengestrichen.
Zwar starb Kafka vor 101 Jahren, aber die aktuellen Bezüge reißen nicht ab. Katakombenartige Herrenhöfe erinnern an gefängnisartige Rückführungszentren, in denen der Fremde auf unbestimmte Zeit zu warten hat. Menschen, die in unsere Länder nur kommen, um in ihnen auch vernünftig bleiben zu dürfen. Jahrelang suchen sie die eine Person, die ihnen die verlässliche Akte ihre Aufenthaltsgenehmigung ausstellen kann.
Auch Kafkas Frauenfiguren können nicht oft genug unsere Bühnen betreten. Frauen, die im anonymen Machtapparat, der sich als Vergewaltigungsapparat herausstellt, niemals Nein sagen dürfen zur erwünschten Zwangsprostitution. Eine Verweigerung der Hingabe an den Apparat wird mit gesellschaftlichem Ausschluss geächtet, jedoch ohne, dass der eigentliche Sachverhalt je benannt wird. Wie die Magd Olga sich in diesem System der Vergewaltigung durch die Knechte auszusetzen hat, wird via Video dezent, aber deutlich dargestellt. Zu K., dem Mann, findet sich zu guter Letzt zumindest eine Akte, die seinen Namen trägt. Für den Fall der Frauen scheint nicht einmal ein Vermerk nötig. Auf die Aktualität des Textes kann Gernot Grunewald sich verlassen, ohne je die sich aufdrängenden Assoziationen ausbuchstabieren oder explizit bebildern zu müssen. Wie es endet? Getreu der Vorlage: Mitten im Satz.
Erschienen am 1.10.2025