Thema
Leidenschaftlich zeitgenössisch
Das Theater Oberhausen setzt fast ausschließlich auf neue Dramatik
von Stefan Keim
Erschienen in: Theater der Zeit: Neue Dramatik (03/2023)
Assoziationen: Dramatik Nordrhein-Westfalen Dossier: Neue Dramatik Theater Oberhausen

Das Große Haus ist ausverkauft. In Oberhausen war das lange eine Seltenheit. Zumal wenn eine Uraufführung mit einem eher seltsamen Titel auf dem Spielplan steht. „Die Wahrheit über Leni Riefenstahl (inszeniert von ihr selbst)“. Ein doppelbödiges Spiel, denn Regie führt die neue Intendantin Kathrin Mädler und den Text hat John von Düffel geschrieben. Ein problematisches Stück, nicht ohne Längen, vor allem vor der Pause. Dennoch großer Jubel, nicht nur – wie mancherorts üblich – von den eigenen Kolleg:innen. Da scheint etwas zusammenzuwachsen, ein breites Publikum und ein Theaterteam, das fast ausschließlich auf zeitgenössische Stücke setzt.
Und das in Oberhausen? Der Ruhrgebietsstadt voller sozialer Probleme, in der Mädlers Vorgänger Florian Fiedler mit seinem innovationsfreudigen Programm zu wenig Publikum fand, um verlängert zu werden. Auch Vorvorgänger Peter Carp zeigte viele der heute schon fast legendären Inszenierungen wie Simon Stones „Orestie“ auf der Hinterbühne bei reduziertem Platzangebot. Oberhausen hat kein klassisches Bildungsbürgertum. Es ging die Mär, dass hier vor allem Liederabende und Komödien Publikum anziehen. Nun rühmen die Dramaturginnen, wie offen und neugierig die Zuschauer:innen sind.
„Wir haben auch mit einem Liederabend angefangen“, sagt Chefdramaturgin Saskia Zinsser-Krys. „Gute Hoffnung“ heißt er, die Worte stehen auch als Motto über der Spielzeit. „Das war eine große Einladungsgeste. Und da hatte ich gleich das Gefühl, es ist ein Funke übergesprungen. Das Publikum ist der Einladung gefolgt. Wir haben ja nun schon weit über die Hälfte der Premieren gespielt und viele unterschiedliche Dinge gemacht.“ Saskia Zinsser-Krys schaut zu ihrer Intendantin, die neben ihr sitzt. „Kathrin“, ergänzt sie, „ich hatte schon ein bisschen Sorge wegen der niedrigen Zuschauerzahlen an diesem Theater. Und dass wir jetzt eine ausverkaufte Premiere hatten, freut mich riesig. Ich dachte, wir brauchen länger dafür.“
Vielleicht liegt ein Grund darin, dass die neue Leitung zwar Ur- und Erstaufführungen zeigt, aber nicht gleich mit schwer zugänglichen Sprachkunstwerken angefangen hat. Die ersten Stücke erzählen Geschichten. „Kissyface“ von Noah Haidle ist eine durchaus netflix-taugliche Thrillerfarce aus einer US-amerikanischen High School. Auf dem Campus bricht ein Bürgerkrieg aus, das Publikum sitzt mit dem Ensemble in der Bibliothek, der letzten Zuflucht. Und zwar hautnah, das gesamte Studio ist Spielfläche. Und „Welt überfüllt“ von Anna Gmeyner ist zwar eine Uraufführung, aber, wie Saskia Zinsser-Krys erläutert, „eine besondere Uraufführung, weil sie fast einhundert Jahre alt ist. Es hat uns beeindruckt, wie unglaublich aktuell der Text unsere Zeit erzählt. Das war der Grund, warum wir ihn auf der Bühne gezeigt haben.“ Ein bisschen Horváth-Touch weht durch den Abend. „Wir glauben schon an die großen Emotionen, an Geschichten“, sagt die Chefdramaturgin. „Wir glauben daran, dass wir politisch relevantes Theater ohne Zeigefinger machen können, mit einer Geschichte, die das Publikum nicht nur im Kopf, sondern auch im Herzen berührt.“
Der Zeigefinger ist dem Theater Oberhausen durchaus nicht fremd. In den zwei Klassikerinszenierungen wird er deutlich erhoben. Am Ende von Büchners „Woyzeck“ gibt es einen vom Ensemble verfassten Epilog, in dem der Femizid in Geschichte und Gegenwart thematisiert wird. Und der mit viel Energie gespielte „Schimmelreiter“ nach Theodor Storm wird sogar von erklärenden Kommentaren umrahmt. Am Ende münden sie in Gesprächsrunden mit dem Publikum über die Klimakatas-trophe und klischeebeladene Frauenfiguren in alten Texten.
Beide Inszenierungen sind erkennbar für Schulklassen gedacht. „Woyzeck“ ist in Nordrhein-Westfalen Abiturstoff und wird an jedem zweiten Theater gespielt. Bei den Klassikern könnte sich Oberhausen mehr trauen und das Publikum nicht ganz so aufdringlich ans Händchen nehmen. Doch das Repertoire ist eben nicht die Kernkompetenz des Spielplans, der – den Sonderfall Anna Gmeyner ausgenommen – konsequent auf neue Dramatik setzt. „Die Zusammenarbeit mit Autor:innen ist für uns zentral“, sagt Kathrin Mädler. „Auch weil wir uns nach der Pandemie fragen müssen, wie wir Orte der Zeitgenossenschaft sein können. Da ist der Fokus auf zeitgenössische Dramatik der richtige Weg.“
Dabei buhlt Oberhausen nicht um die großen Namen, sondern setzt auf Entdeckungen. Wie „zwei herren von real madrid“, in dem Leo Meier von zwei schwulen Fußballprofis erzählt, die Drachen als Haustiere haben. „Wir haben intensiven Kontakt mit den Theaterverlagen“, erzählt Kathrin Mädler, „das war so eine Empfehlung.“ Und Dramaturgin Laura Mangels bereitet gerade ein viertägiges Festival mit neuen Stücken aus Südosteuropa vor. Das Goethe-Institut hat in mehreren Ländern Dramatiknachwuchs mit etablierten Autor:innen zusammengebracht. „Nach der zweijährigen Schreibphase“, berichtet Laura Mangels, „sind 34 sehr spannende Texte entstanden. Eine Jury hat eine Shortlist mit fünf Autor:innen erstellt, die wir ins Rampenlicht rücken wollen.“ Oberhausen arbeitet hier mit dem neuen Leitungsteam am Schauspiel Essen, dem Nationaltheater Mannheim und dem deutschsprachigen Theater im rumänischen Sibiu zusammen. An diesen Orten sollen ausgewählte Stücke ihre Uraufführungen erleben. „Beim ,Festival New Stages South East‘ im April“, sagt Laura Mangels, „können wir aber viel mehr zeigen. In vier Tagen präsentieren wir mit Werkstattinszenierungen und szenischen Lesungen eine neue Generation aus Südosteuropa.“
Felicia Zeller gehört zu den etablierten Dramatikerinnen. Sie hat im Oberhausener Frauenhaus Interviews geführt und erarbeitet ein Stück, das noch keinen Titel hat und am Ende der Spielzeit uraufgeführt werden wird. Auch John von Düffel gehört zu den bekannten und vielgespielten Theaterautoren, der allerdings zu Unrecht wegen seiner erfolgreichen Thomas-Mann-Adaptionen oft auf das Image eines geschickten Handwerkers reduziert wird. Allerdings weist sein Stück „Die Wahrheit über Leni Riefenstahl (inszeniert von ihr selbst)“ genau diese Schwächen auf. Der Text arbeitet sich detailreich an der Autobiografie der ästhetisch wegweisenden und politisch höchst zweifelhaften Filmregisseurin ab. Eine Menge Informationen fliegen am Publikum vorbei, die in der Eile nur mit viel Vorwissen sortiert werden können. Kathrin Mädler inszeniert die Faktenfülle als Farce mit eher harmlosen Hitler- und Goebbels-Karikaturen. Schulfunk auf Koks, könnte man sagen, wenn Kokain nicht so voll Weimarer Republik wäre, wie es im Stück heißt.
Schön ist allerdings der Kunstgriff, gleich drei Lenis auftreten zu lassen: die junge Tänzerin und Schauspielerin, die mitteljunge Regisseurin, die während der Nazidiktatur Karriere macht, und die alte, die Rückschau hält. Das umwerfende Schauspielerinnentrio (Maria Lehberg, Ronja Oppelt und Anke Fonferek) hält die Spannung hoch. Und nach der Pause wird das Stück dichter, findet eine klare Geschichte, konzentriert sich auf das Schicksal der Roma- und Sinti-Statist:innen aus dem KZ, die in Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ mitwirken mussten. Und darauf, wie die Regisseurin bis zum Schluss alle Kritik zurückwies und dabei von Alice Schwarzer zur Ikone des Feminismus erklärt wurde.
Auch wenn das Stück trotz manch packender Momente nicht auf den Punkt kommt, zeigt auch diese Aufführung, warum das Konzept von Kathrin Mädler und ihrem Team aufgehen kann. Dass bei so viel Mut zum Neuen keine perfekten Vorstellungen herauskommen, ist klar. Aber lebendig ist das Theater Oberhausen, getragen von einem tollen Ensemble, in dem viele schon länger am Haus sind und sich mit ebenso viel Begeisterung wie die jungen Kolleg:innen in die neuen Aufgaben stürzen. Die Bühnenbilder sind effektvoll, scheuen nicht die Opulenz. „Es gibt schon ein Bedürfnis“, sagt Kathrin Mädler, „nach einem Theater, das eine magische Komponente hat und Welten erschafft. Wir arbeiten gerne mit einer kraftvollen Bildsprache.“
Und vor allem: Dieses Theater vergisst bei allen politischen Inhalten und ästhetischen Ansprüchen nie den Blick auf das Publikum. „Wir haben auch den Wunsch nach emotionaler Verbundenheit, die mit politischer Haltung verbunden ist“, erklärt die Intendantin. „Vielleicht passen Oberhausen und wir deshalb gut zusammen. Einen taktischen Spielplan zu machen, der auf das Angesagte oder den allgemeinen Diskurs schielt, interessiert uns überhaupt nicht. Man kann ja nur mit Leidenschaft vermitteln, wohinter man selbst hundertprozentig steht.“
Laura Mangels erläutert, warum die Dramaturgie in Oberhausen so gut funktioniert: „Wir haben einen gemeinsamen Theaterbegriff, bringen aber auch sehr unterschiedliche Perspektiven mit. Saskia Zinsser-Krys ist Kanadierin und hat einen Blick auf den englischsprachigen Raum. Jascha Fendel hat eine große Kenntnis bei den Klassikern, gleichzeitig ist er sehr am Zeitgenössischen interessiert. Kathrin hat mit John von Düffel oder Noah Haidle schon eine längere Arbeitsbeziehung. Ich interessiere mich für zeitgenössische Stücke mit einer eigenen Kunstsprache. So kommt eine große Textauswahl zustande.“ Auch ästhetisch ist das Angebot groß. Mit „Rigby“ war auch eine Eins-zu-eins-Performance – ein Zuschauender, ein Performender – dabei. Und mit „§ 218“ entsteht gerade ein musikalisches Dokumentartheater, in dem Frauen über ungeplante Schwangerschaften und ihre Erlebnisse berichten, in der jedes „Äh“, jeder Stotterer, jede Sprechpause dokumentiert und musikalisch in einer Komposition verarbeitet wird.
Und noch eins überrascht am Oberhausener Spielplan. Durch die Konzentration auf neue Dramatik ist überhaupt nicht zu erkennen, welches Stück nun Tragödie oder Komödie ist, welches eher eine politische oder eine unterhaltende Position vertritt. „Am Anfang denken wir schon an dieses typische Spielplanraster“, erläutert Kathrin Mädler. „Aber das verschwindet bei der genaueren Beschäftigung mit den Stücken.“ Weil die meisten Aufführungen alle oder zumindest viele dieser Kriterien erfüllen, vitales Theater voller Überraschungen sind. Ganz blöd gesagt: Da geht man einfach gerne hin.