Die 1960er und 1970er Jahre
Das Living Theatre: Brecht und Artaud
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
An den anarchisch antibürgerlichen Artaud anknüpfend, machte das Living Theatre seit THE CONNECTION eindeutig antikapitalistisches Theater. Modellgebend für kulturrevolutionäre Kunst organisierte es sich als eine (Künstler-)Gemeinschaft nicht nur von Profis, sondern aller, die eine kollektive alternative Lebensweise suchten, die zugleich höchstmögliche Individualität, Freiheit des Einzelnen respektierte. Seine Aufführungen sollten ein essentielles Lebens-Ereignis sein, dessen physische Erfahrung entfremdende Masken der teilnehmenden Individuen wegsprengt; ihr humanes kreatives Potenzial bereits im theatralen Akt freisetzend, was als ein erster, entscheidender Schritt in Richtung einer fundamentalen Umwälzung des Gegebenen, einer sozialen Revolution gedacht war. Das theatrale Geschehnis sollte nicht nur kulturelle und politische Befreiung bedeuten, sondern bereits sein, eine im Sinne Artauds direkte Aktion.112 Eine Korrespondenz zwischen Artaud und Brecht schien möglich. Man wollte, so Julian Beck zur Inszenierung von Brechts ANTIGONE, dass „die physische Gegenwart des menschlichen Wesens“ alles erzählen sollte. „Niemand spricht, ohne das, was gesagt wird, mit einer wirklichen Stelle im Körper zu verbinden. Deshalb haben wir auch so viele Töne und Rhythmen für das Sprechen gefunden.“ Man habe 22 Leute für zwei und eine halbe Stunde auf die Bühne gebracht, die „andauernd in dem Zustand des Außersichseins [exaltation] sind, der sich aus jedem Akt eines...