Auftritt
Schaubude Berlin: Taumel in der Stadt
„Taumel“ von Clara Leinemann – Spiel, Regie, Szenografie Josephine Nahrstedt, Kostüm Robert Kis, Sounddesign Felix Winter, Dramaturgie Victoria Ramos Sörvik
Assoziationen: Berlin Puppen-, Figuren- & Objekttheater Theaterkritiken Kinder- & Jugendtheater Clara Leinemann Josephine Nahrstedt Schaubude Berlin

Die Welt ist laut und schnell. Die Kinder im Foyer der Schaubude scheinen das auch schon begriffen zu haben und machen sich diesen Umstand wenige Minuten vor der Premiere kurzerhand zu ihrer ganz eigenen Spielgrundlage: In einer kleinen Gruppe halten sie sich abwechselnd die Ohren zu und wieder auf. Sie freuen sich über das wunderliche Klangkunstwerk, das plötzlich aus dem akustischen Trubel des Foyers als kleines Hörspektakel in ihre Ohren saust. Doch nicht immer macht der Lärm unserer Welt so viel Freude; hin und wieder holt uns der Taumel der Stadt ein und wir werden müde – schrecklich müde.
Taumel, eine kleine, grüne Stinkwanze auf Durchreise, erzählt den Kindern in Clara Leinemanns gleichnamigen Stück von eben diesem Gefühl der Müdigkeit: „Schlafen, genau, eigentlich will ich nur ein bisschen schlafen (…) am liebsten unter einem Haufen voller Blätter, im Wald.“, berichtet das kleine Tierchen schlaftrunken ihrem jungen Publikum. Der Wald ist das Zuhause der kleinen Wanze, doch eine Verkettung von Ereignissen entriss sie ihrem kuschligen Blätterbett: Erst ist Taumel im Laubspiel in einen Kinderärmel gerutscht, von dort gelangte sie in eine Einkauftüte, landet unverhofft in einem Blumenbeet, dem Hausmüll und schließlich in einem Supermarkt … Wie konnte das nur alles passieren? Eigentlich möchte Taumel doch nur schlafen – zurück in ihren dunklen Wald und ganz viel schlafen.
In einer großen, grünen, schlafsack-ähnlichen Kostümpuppe nimmt Josephine Nahrstedt die Kinder mit auf eine Reise: Im lockeren Wechselspiel schlüpft Nahrstedt sowohl in die Rolle der einsamen Parfümsammlerin Antoinette Reise, die Taumel überraschend nach einem Urlaub in ihrem Koffer entdeckt, als auch in die der müden Stinkwanze. Nachdem Antoinette begreift, dass Taumel eine Wanze ist, schnappt sie sich ruckzuck einen roten Einkaufswagen mit dem Nummernschild „A.Reise“ und düst mit Taumel im Gepäck los: An dieser Stelle wechselt das Spiel auf die Leinwand. In einem kurzen Film sehen wir Antoinette und Taumel mit dem roten Einkaufswagen vor der Schaubude ihre Reise antreten. Nach einem gemeinsamen Ausflug in den benachbarten Ernst-Thälmann Park kehren die beiden wieder in den Saal zurück. „Die sind ja im selben Theater wie wir! Die sind ja da, wo wir sind!“, rufen die Kinder. Dieses spielerische Medien-Hin-und-Her zwischen Fiktion und Realität kommt gut an. Die Reaktionen der Kinder zeigen: Um junge Menschen an das Theater heranzuführen, braucht es nicht viel. In der Reduktion der Requisiten und des Bühnenbilds wird der Zauber erst richtig sichtbar. Die Kinder machen Vorschläge, sprechen mit und taufen die Wanze im Laufe der Inszenierung liebevoll „Stinkesocke“.
Als Nahrstedt die verschiedenen Düfte der Parfümsammlerin großzügig im Theaterraum der Schaubude versprüht, können sich die Kinder in der ersten Reihe dann auch nicht mehr auf ihren Sitzen halten. „Orange-Veilchen-Frittierfett – ein absolutes Nasenspektakel!“, verkündet Antoinette und die Kinder laufen neugierig den Duftwolken entgegen. Theater kann eben auch duften. Und: Wenn es auf den wachen Geist eines Kindes trifft, kann schon ein einfaches Parfüm Staunen erzeugen. „Immer wenn ich Angst hab, pfft pfft, versprüh ich meinen Schreckgeruch überall hin. Und ich hatte jetzt so lange Angst, überall wo ich war, eigentlich. Aber das ist jetzt weg, ich hab‘ jetzt keine Angst mehr, hier ist eigentlich alles ganz entspannt.“, erzählt die Wanze und vermittelt den jungen Menschen auf diese Weise ganz beiläufig – aber dafür umso direkter – Wichtiges über das Kommen und Gehen von Ängsten. Nachdem Antoinette die müde Wanze am Ende sicher in ihren Wald zurückgebracht hat, merkt sie: Eigentlich möchte sie gar nicht mehr weg. Und dass nicht, weil es im Wald so gut riecht und so schön leise ist, sondern vielmehr, weil die beiden jetzt Freunde sind und es zusammen eben viel schöner ist als allein. „Taumel“ regt junge Menschen dazu an, hin und wieder gemeinsam innezuhalten, um die Gerüche, die Geräusche und auch die Geschwindigkeiten unserer Welt achtsam wahrzunehmen – um zu beobachten, wann sie uns lachen, weinen, freuen, fürchten oder auch schlafen lassen.
Erschienen am 26.4.2023