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Auf Tuchfühlung
Das 34. Festival de Almada in Lissabon rückt nicht nur dem Zuschauer auf den Pelz, sondern auch der Kolonialgeschichte des eigenen Landes
von Theresa Schütz
Erschienen in: Theater der Zeit: Sie sind zurück – Vegard Vinge und Ida Müller im Nationaltheater Reinickendorf (09/2017)
Assoziationen: Tanz Sprechtheater Performance Akteure Europa
Den Schauspielern möglichst nah sein! So ließe sich, etwas salopp formuliert, die formale Richtschnur beschreiben, entlang derer Rodrigo Francisco das Programm des diesjährigen 34. Festivals de Almada zusammengestellt hat. Im Zentrum stand die norwegische Produktion „Hedda Gabler“ des Visjoner Teater um Schauspielerin Juni Dahr. Die Mischung aus ortsspezifischer Kunst und klassischem Illusionstheater wurde 2011 in einer Sommerhütte in Oslo inszeniert. Das Publikum ist hier gleichsam im fiktiven Hause Tesman zu Gast und folgt den Figuren durch ihre Zimmer. Die angestrebte Intimität entsteht weniger durch Interaktion als durch die physische Nähe im geteilten Bühnenraum. Zudem präsentierte das größte staatlich finanzierte Theaterfestival Portugals, das vom 4. bis 18. Juli in Almada, einem kleinen Vorort Lissabons auf der anderen Uferseite des Tejo, stattfand, in diesem Jahr schwerpunktmäßig portugiesische Produktionen (11 von 27).
Einen künstlerischen Höhepunkt bildete die Performance „Operários“ von Miguel Moreira und Romeu Runa, einem langjährigen Tänzer bei Alain Platel. Im Teatro-Estúdio António Assunção, einer Bühne für experimentelle Formen, zeigten die beiden vor zwanzig Jahren mit ihrer Gruppe Útero erste Arbeiten. Nun kehren sie zurück. Nicht nur zu den künstlerischen Anfängen, sondern auch in ihre Geburtsstadt, in der mit Lisnave auch eines der größten portugiesischen Schiffsbauunternehmen beheimatet ist. Ebenjenen Arbeitern (operários auf Portugiesisch) ist ihr Stück gewidmet. Nähe wird hier im übertragenen Sinne erzeugt: Die Menschen aus Almada sollen sich durch das Theater direkt angesprochen und auch repräsentiert fühlen.
Zu Beginn steht Runa mit nacktem Oberkörper, klobigen Schuhen und schwarzer Langhaarperücke, die sein gesenktes Haupt verdeckt, auf der leeren, dunklen Bühne. Von schnellem Takt und flackerndem Licht angetrieben, beginnt seine schlank-schlaksige Körpermaschine mit ungelenkem Stampfen, stelzigen Pliés und automatisierten, hektischzitternden Armen seine Arbeit. Er wirkt kraftvoll und stark, zugleich auch ganz zart und zerbrechlich. Sein Gegenpart, Moreira, tritt auf, indem er sich aus der kugelhaften Umarmung mit der Performerin Sara Garcia löst, in die er im Bühnenhintergrund eingefroren war. Er hat etwas Tollpatschiges an sich, wie er da mit einem Holzboot im Arm im Bühnennass herumstapft. Ein morscher Mast, den Runa auf die Bühne hievt und der zum Ort der als Sirene deutbaren Performerin Sara Garcia wird, setzt die Motivreihe um die portugiesische Nation männlicher Seefahrer fort.
Diese konkretisiert sich zu Aspekten der Kolonialgeschichte, wenn sich Runa (im schwarzen Ganzkörperanzug) und Moreira (nackt, mit umgebundener Portugal-Flagge und Blumenkranz) zum „Tanz der Ritter“ aus Prokofjews „Romeo und Julia“ zu duellieren beginnen. Ein Kampf des Herrschers gegen den Beherrschten, gegen den Fremden und auch gegen den eigenen Schatten. Widerstreitende Prinzipien auszustellen und zu dekonstruieren ist ein zentrales Merkmal dieser Arbeit, die auf der visuellen Ebene vor allem auch Geschlechtergrenzen zum Verwischen bringt. Dazu passt, dass der nackte Moreira, unbeholfen an seinem Schwanz spielend, einen Auszug aus Artauds „Heliogabal oder Der Anarchist auf dem Thron“ ans Publikum richtet, einem komplexen Text, der vieles ist: Versuch über Androgynie, Kritik an einseitiger (hier: negativer) Geschichtsschreibung, romanhafter Essay über das Leben des syrischen Fürsten Heliogabal, der sich für einen Mensch gewordenen Gott hielt und um 220 gegen die polytheistische römische Monarchie rebellierte, sowie theoretische Vorbereitung von Artauds „Theater der Grausamkeit“.
Den Tänzern physisch nah ist hier vor allem der Performer shadoWMan, dessen Kunst in „Being“ darin besteht, sich in Aufführungen gleichsam als Parallel-Performance einzufügen. Witz und Melancholie, die von seiner Gestalt als ein mit Taschenlampe und Wasserbeutel ausgestatteter stumm Umherwandelnder ausgehen, resonieren perfekt mit der Atmosphäre dieser sinnlich-klugen Performance, deren roter Motivfaden in der Gegenwart endet: Das Paar vom Anfang liegt entzweit und regungslos in einem Schlauchboot. Ein portugiesischer Fado – gesungen von Teresa Esteves da Fonseca – begleitet uns in die Sommernacht. //