Theater der Zeit

Kunstinsert

Tag der Befreiung / Tag des Sieges

Zur Fotoserie von Nikolaus Stein

von Thomas Irmer

Erschienen in: Theater der Zeit: Frank Castorf – „Wallenstein“ in Dresden (06/2022)

Assoziationen: Performance Dossier: Ukraine Nikolaus Stein

9. Mai in Berlin Treptower Park. Die Performance soll an die Kriegsverbrechen in Butcha erinnern.
9. Mai in Berlin Treptower Park. Die Performance soll an die Kriegsverbrechen in Butcha erinnern.Foto: Nikolaus Stein

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Am 9. Mai 2017 drehte der in der Belorussischen SSR geborene ukrainische Regisseur Sergej Loznitsa den Film „Den‘ Pobedy“ (Tag des Sieges) am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin Treptow. Ein Beobachtungsfilm, der mit Kamera und groß angelegter Mikrofontechnik die unterschiedlichsten Gedenkfeiern und Rituale festhält. Kranzniederlegungen, kleine Aufmärsche, militärische Ehrenbezeigungen, aber auch Picknicks, Tänze und Gesänge bis hin zu einer volksfesthaften Atmosphäre und vor allem eine ungeheure Ansammlung von Symbolen der untergegangenen Sowjetunion und des neurussischen Nationalismus auf Fahnen, T-Shirts, mitgebrachten Bildern und Plakaten. Der Film macht deutlich, dass aus Gedenken und Trauer über die unvorstellbaren Opferzahlen der Sowjetsoldaten im Zweiten Weltkrieg etwas anderes geworden war, eine von unterschiedlichsten Menschen aufgeführte erinnerungspolitische Demonstration – drei Jahre nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs im Donbass.

Der 9. Mai ist als Tag des Sieges der wichtigste staatliche Feiertag in Russland. Der Datumsunterschied zum Tag der Befreiung am 8. Mai in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern ergibt sich aus dem Zeitpunkt der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht für die zwei Stunden weiter östlich liegende Zeitzone Moskaus. Diese Zeitverschiebung scheint nun auch eine symbolische Bedeutung zu erlangen. Die beiden Tage sind in ihrer Bedeutung längst nicht mehr deckungsgleich. Historiker ergänzen inzwischen zum Tag der Befreiung den Fakt, dass die erste Phase des Zweiten Weltkriegs auch seitens der Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt mit der Besetzung des östlichen Polen und der Staaten des Baltikums 1939 ein brutaler Angriffskrieg gewesen sei. Der Schriftsteller und Dramatiker Vladimir Sorokin wies vor Kurzem darauf hin, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs die Staaten Osteuropas auf Entschuldigung und Wiedergutmachung für die Taten der Befreier geradezu großzügig verzichtet hätten. Was ist nun dieser Doppeltag heute?

Am 8. und 9. Mai 2022 fotografierte Nikolaus Stein am Ehrenmal im Treptower Park jeweils den ganzen Tag lang. Fahnen, auch die der Ukraine, waren von der Berliner Polizei verboten worden, wie auch das klar als Unterstützung der Aggression gegen die Ukraine geltende „Z“ und jegliche Kostümierung in Uniformen, wie es zuvor viele Jahre lang der Brauch war. Gemeinsam mit dem Fotografen entstand hier eine Auswahl für das Kunstinsert, die Bilder vom 9. Mai an diesem Ort in seinen gewaltigen Spannungen und zugleich kleinen wie großen symbolischen Handlungen zeigt. Der nächste Tag des Sieges könnte schon wieder ganz anders aussehen. //

 

Nikolaus Stein ist Fotograf und Gründungsmitglied von Iconic Mirage. Stein, in den frühen 90er Jahren in Oberösterreich geboren, versieht sein Werk mit autobiografischen Bezügen und einer radikalen Hantologie, der Vorstellung von der Wiederkehr kultureller oder sozialer Phänomene. Nikolaus Stein ist Alumnus der Ostkreuzschule für Fotografie und wurde mit dem Marta Hoepffner-Preis für Fotografie ausgezeichnet.

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