Theater der Zeit

Auftritt

Aalto-Musiktheater Essen: Der Mensch ist gar nicht gut

„Dogville“ von Gordon Kampe nach dem Film von Lars von Trier (UA) – Musikalische Leitung Tomas Netopil, Inszenierung David Hermann, Bühne und Licht Jo Schramm, Kostüme Tabea Braun

von Stefan Keim

Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Musiktheater Dossier: Bühne & Film Lars von Trier David Hermann Gordon Kampe Theater und Philharmonie Essen

Sie ist angekommen. Oder nicht? „Dogville“ von Gordon Kampe nach dem Film von Lars von Trier in der Inszenierung von David Hermann.
Sie ist angekommen. Oder nicht? „Dogville“ von Gordon Kampe nach dem Film von Lars von Trier in der Inszenierung von David Hermann. Foto: Matthias Jung

Anzeige

Anzeige

Mehr Verfremdung und mehr Theater kann man sich im Film kaum vorstellen: Die Häuser der Stadt „Dogville“ waren in Lars von Triers Film mit weißen Strichen auf einen Bühnenboden gemalt. Eine Erzählerstimme hatte einen großen Teil des Textes, gespielt wurde psychologisch. Und nun die Opernversion, völlig anders. Kein Erzähler, eine fast halbierte Spieldauer, 100 Minuten statt drei Stunden. Und eine sensationelle Bühne.  

Zu Anfang ist die Spielfläche noch leer. Bis auf ein Auto, ein Oldtimer. Eine junge Frau steigt aus, bleibt allein in der Fremde zurück. Grace, im Film gespielt von Nicole Kidman, in Essen überragend verkörpert von der Sopranistin Lavinia Dames. Sie bittet um Aufnahme im Dorf Dogville, als Geflüchtete. Erst muss sie den Bewohnerinnen und Bewohnern ihre Hilfe geradezu aufdrängen, Grace will sich nützlich machen. Als Steckbriefe auftauchen und sie von der Polizei gesucht wird, denunziert sie niemand. Doch die Stimmung ändert sich, verschärft sich, bis Grace gedemütigt und vergewaltigt wird.  

Das Bühnenbild erzählt ihre Geschichte als die eines langsamen Aufstiegs. Immer weiter schiebt sich eine Schräge ins Bild, ein Zimmer nach den anderen, einfach dargestellt durch Wände und Türen. Wenn Grace ganz oben angekommen ist, hat sie unfassbar gelitten. Dann erscheint wieder das Auto vom Beginn. Daraus entsteigt ihr Vater, ein Gangsterboss. Grace hält zunächst immer noch an dem Gedanken fest, dass die Menschen in Dogville eigentlich gut sind, dass die Welt doch nicht so schlecht ist, wie ihr Verbrechervater glaubt. Angesichts ihres Martyriums gehen ihr die Argumente aus. Dann fährt das Auto los, die ganze Schräge hinunter, die sich nun von der anderen Seite wieder ins Sichtfeld des Publikums schiebt. Alle Wände, Türen und Kulissen fährt das Auto um, während im Hintergrund Feuer auflodert. Man fragt sich, wie breit die Seitenbühne sein muss, damit diese wilde Fahrt möglich ist. Ein unglaublicher Bühneneffekt. 

Komponist Gordon Kampe hat nicht nur eine farbenfrohe, geschickt die Stile wechselnde Musik komponiert. Er hat auch das Drehbuch ausgezeichnet verknappt und auf Grace fokussiert. So entsteht eine packende, spannende Oper mit bösem abgründigem Humor. Wenn die Melodien romantisch klingen, führen sie das Publikum auf ganz falsche Fährten, gelegentlich glaubt man Gershwin-Musicals zu erahnen, oder auch die direkte Sprachbehandlung in den Opern Benjamin Brittens. Die Ironie wird nicht wie in vielen zeitgenössischen Musiktheaterstücken mit der dicken Kelle aufgetragen, sondern feinsinnig. Was Tomas Netopil mit den Essener Philharmonikern subtil herausarbeitet. 

In Essen ist über viele Jahre hinweg ein überwältigendes Ensemble zusammengewachsen. Nicht nur stimmlich, auch darstellerisch. 14 Solopartien hat das Stück, da hat Gordon Kampe keine Kompromisse gemacht und für ein großes Haus komponiert. Alle sind perfekt besetzt. Als Beispiel sei Rainer Maria Röhr herausgegriffen, der den Truckfahrer Ben spielt. Grace gibt ihm Geld, damit er sie aus Dogville herausschafft, wird von ihm verraten und vergewaltigt. Röhr zeigt einen einfachen Mann, der sich seiner Tat bewusst ist, sich selbst dafür hasst und dennoch das Verbrechen geht. Und das löst Entsetzen aus. Vielleicht ist es gerade Ben, durch den Grace ihren Glauben an das Gute im Menschen verliert. Weil er weiß, was er tut und sich dennoch für die Vergewaltigung entscheidet. 

Das Publikum tobt vor Begeisterung, zuerst kommt die riesige Bühnencrew heraus zum Applaus, dann erst das Ensemble. „Dogville“ in Essen ist nicht nur eine tolle Uraufführung, es ist eine Sensation. 

Erschienen am 21.3.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn
Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"

Anzeige