Thema
House of Arts
Skadi Jennicke, Wiebke Puls und Sven Schlötcke über Machtmissbrauch an Theatern im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Christine Wahl
von Dorte Lena Eilers, Sven Schlötcke, Christine Wahl, Skadi Jennicke und Wiebke Puls
Erschienen in: Theater der Zeit: House of Arts – Über Macht und Struktur am Theater (10/2020)
Assoziationen: Debatte Recht Theater an der Ruhr Glanz und Elend
Glanz und Elend: Unter diesem Titel veröffentlichten wir im Oktober 2016 ein Interview mit dem Schauspieler Shenja Lacher sowie Lisa Jopt und Johannes Lange vom Ensemblenetzwerk. Es ging um Machtmissbrauch und toxische Arbeitszusammenhänge an Theatern. Lacher, damals Ensemblemitglied am Münchner Residenztheater, war einer der Ersten, der sein Unbehagen an Strukturen und Umgangsformen im Betrieb in dieser Form öffentlich machte. Vier Jahre später sprechen wir immer noch davon. In Karlsruhe beschuldigten jüngst große Teile der Belegschaft ihren Intendanten Peter Spuhler des Machtmissbrauchs. Das Theater gehört reformiert. Nur wie?
Frau Puls, Frau Jennicke, Herr Schlötcke, Intendantinnen und Intendanten an Theatern werden, und so ist es für einen Ort der Kunst natürlich richtig, vorrangig nach künstlerischen Kriterien ausgewählt. Das Problem ist nur: Nicht zwangsläufig sind sie auch die besten Chefs. Temperament kollidiert mit Respekt, Narzissmus mit Teamfähigkeit, es kommt zu verbalen Entgleisungen, Drohungen, Machtmissbrauch. Unter dem Deckmantel der Kunst wurden derartige Zustände an Theatern lange toleriert. Handelt es sich dabei um ein spezifisches Theaterproblem?
Wiebke Puls: Ob es ein spezifisches Theaterproblem ist, kann ich nicht sagen, denn ich lebe ja leider nur im Theater (lacht). Nein. Aber ja, es gibt Dinge, die ich mir in Bezug auf dessen Führung anders vorstellen könnte und wünschen würde.
Welche wären das genau?
Puls: Intendantinnen und Intendanten sind mit zu vielen Erwartungen konfrontiert. Ich kenne keinen Menschen, der in der Lage wäre, all diese Erwartungen zu erfüllen. Es ist auch deplatziert, sie an eine einzige Person zu koppeln, denn ein Mensch kann Theater ja nicht alleine machen. Dennoch ist der Spot, sobald die Intendanz berufen ist, auf diese eine Person gerichtet, die für die Gesellschaft nun bitte schillernde Ergebnisse liefern soll. Und noch bevor irgendeine Arbeit präsentiert wurde, werden Urteile gefällt. Das verführt die Berufenen unter Umständen zu falschem Ehrgeiz und Eitelkeit. Der Erwartungsdruck zwingt sie dazu, ihre Pläne durchzusetzen, ohne zu berücksichtigen, wie dieser Organismus Theater funktioniert. Es wäre doch erfreulich, wenn das Theater als ein künstlerischer Körper verstanden würde, der sich bei einer Neuausrichtung erst einmal finden muss, um aus sich heraus Strahlkraft zu entwickeln. Nicht der Körper sollte für die Intendanz arbeiten, sondern die Intendanz für den Körper.
Erwartungsdruck üben nicht nur Publikum und Presse aus, sondern auch die Kulturpolitik, die sich für einen Intendanten, eine Intendantin entschieden hat. Frau Jennicke, ist die Kulturpolitik mitunter zu ungeduldig?
Skadi Jennicke: Grundsätzlich würde ich sagen: Es gibt gute und schlechte Führungspersonen. Im Theater wie überall sonst. Dennoch sehe ich, ähnlich wie Frau Puls, dass im Theater ein Konglomerat an Erwartungen entsteht, das man wahrscheinlich nur mit übermenschlichen Fähigkeiten erfüllen kann. Zum einen hat der Intendant, die Intendantin natürlich einen Betrieb zu führen – und das ist nicht anders als bei Führungskräften in anderen Unternehmen. Zum anderen aber wählt man eine Persönlichkeit, die auch künstlerisch höchsten Ansprüchen genügen muss. Da gebe ich Frau Puls recht: Man erwartet Resultate, bevor im Betrieb überhaupt Zeit gewesen ist, die Bedingungen zu schaffen. Darüber hinaus soll sich der Intendant mit der Stadt identifizieren, verschiedenste Kontakte und Netzwerke bedienen und dabei bitte auch hier brillieren. Gleichzeitig soll er das Innen vor dem Außen schützen, damit eine Atmosphäre des Vertrauens entsteht: in dieser Mischung schwer erfüllbar.
Das heißt also tatsächlich, die Kulturpolitik macht zu viel Druck?
Jennicke: Den macht sie ja nicht allein. Es gibt auch einen gesellschaftlichen Erwartungsdruck. Denn, ja, ein Theaterbetrieb kostet öffentliches Geld. Da erwartet die Gesellschaft – bei uns in Leipzig vertreten durch den Stadtrat – natürlich Erfolg. Die Frage lautet eher: Wie wird dieser Erfolg definiert?
Sven Schlötcke: Ich weiß von vielen Kollegen – für mich am Theater an der Ruhr gilt das zum Glück nicht –, dass sich die „Durchökonomisierung“ des Theater- und Kunstbetriebs letztendlich in Form von Zahlen niederschlägt. In den Zielvereinbarungen von Intendantenverträgen finden sich häufig Angaben wie etwa eine zu erreichende Auslastung. Die kollektive Kommunikationskunst Theater lässt sich aber nicht auf Zahlen – die unsere Gesellschaften ja ansonsten dominieren – reduzieren. Sie ist unter anderem auch „Statthalter der nicht vom Tausch verunstalteten Dinge“, wie Adorno es formuliert.
Jennicke: Ich würde niemals eine Intendantenpersönlichkeit ausschließlich an den Besucherzahlen messen. Wenn keine Besucher kommen, das ist richtig, muss ich natürlich Fragen stellen. Ich muss vor dem Stadtrat und letztlich vor dem Steuerzahler die ja nicht gerade geringen Zuwendungen rechtfertigen. Aber Besucherzahlen sind nicht der alleinige Maßstab, nach dem ich die Leistung einer Intendanz bemesse.
Schlötcke: Ich würde die Diskussion über Machtmissbrauch auch sowieso gar nicht an einzelnen Personen festmachen. Das, was Pierre Bourdieu mit symbolischer Gewalt beschreibt, ist erst einmal grundsätzlich in der Gesellschaft verankert. Es sind Formen von Herrschaft, die strukturell entstehen, gesellschaftlich anerkannt sind und die dominierenden Sichtweisen auf das Soziale legitimieren. Die gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Formen von Gewalt bröckelt zum Glück derzeit im Zuge der Gender-Debatte, der Diversitätsdiskussion und der Auseinandersetzungen um Machtmissbrauch. Spezifisch am Theater ist eine wilhelminisch hydraulische Grundstruktur, die vielfach hierarchische Strukturen selbst in der Wirtschaft übertrifft. Aufgrund dieser sehr stark ausgeprägten Hierarchie werden Eigenverantwortung und Selbstermächtigung nicht eben befördert, die Möglichkeiten von Machtmissbrauch hingegen schon.
Jennicke: Das eine sind Strukturen – da ist viel im Umbruch –, das andere sind aber Führungspersönlichkeiten. Ich glaube, dass wir das getrennt oder differenziert diskutieren sollten. Natürlich hat Macht auch immer das Potenzial zu Gewalt, aber eine gute Führungspersönlichkeit zeichnet sich aus meiner Sicht dadurch aus, dass sie Macht bewusst gebraucht, um zu gestalten – und nicht, um Menschen zu demütigen. Da reden wir über gute oder schlechte Intendantenpersönlichkeiten und nicht so sehr über Strukturen. Auch in kollektiv verwalteten Ensembles gibt es Menschen, die narzisstische Neigungen haben. Und es gibt andere, die so an sich gearbeitet haben, dass sie teamorientiert leiten können.
Nun existieren im Theater aber spezifische Bedingungen, die einen Machtmissbrauch „erleichtern“. Das künstlerische Personal ist oft über den Normalvertrag Bühne beschäftigt. Das sind Verträge, die jedes Jahr durch die Theaterleitung erneuert werden müssen. Diese Befristung in Dauerschleife ist, schlimmstenfalls, ein prima Druckmittel und ein dankbares Werkzeug leerer Machtgesten.
Jennicke: Aber da beginnt doch der Machtmissbrauch: Wenn ich dieses Instrument, das geschaffen worden ist, um die künstlerische Qualität eines Hauses gestalten zu können, dafür entfremde, eine Schauspielerin, einen Schauspieler zu entlassen, weil mir seine oder ihre Meinung nicht passt, wenn ich also eine Atmosphäre schaffe, in der man nicht mehr frei reden kann, liegt doch der Missbrauch klar auf der Hand.
Als Betroffener kann ich dagegen juristisch aber nur schwer vorgehen: Die Einschätzung künstlerischer Qualität ist bekanntlich relativ und kann immer als Kündigungsgrund vorgeschoben werden. Mitarbeiterschutz und auch eine Betriebsethik sehen anders aus.
Schlötcke: Natürlich gibt es Betriebsräte und Gremien, die schützend eingreifen können. Mir wäre es zu kurz beschrieben, wenn man das Problem auf Persönlichkeitsdefizite und mangelnde Führungskompetenz reduziert. Ethik ist immer auch vom gesellschaftlichen Zustand geprägt. Es ist doch ein Unterschied, ob ich als König eingesetzt werde oder als Teil eines verantwortlichen Kollektivs. Die extrem starken vertikalen Hierarchien tragen dazu bei, dass sich Probleme leichter ausprägen als in flacheren Strukturen, die korrektiver verfasst sind.
Puls: Ich habe in meinen 22 Berufsjahren einige Intendanten erlebt. Tatsächlich bis jetzt nur Männer. Besonders glückliche Erinnerungen habe ich an eine ganz klar patriarchal-hierarchische Struktur mit einer großartigen Führungspersönlichkeit. Es gab auch Intendanten mit einem ausgeprägten Willen, gemeinsam etwas zu erschaffen, die zwischenzeitlich unter Druck gerieten durch die Erwartungen von außen – und damit meine ich auch das Publikum, das zu großen Teilen unbedingt affirmative Kunst sehen will. Publikum und Presse haben sie unter scharfe Beobachtung gestellt, was es ihnen natürlich schwerer gemacht hat, sich nach innen zu wenden und als Teil dieser Gruppe zu empfinden.
Ich habe auch erlebt, dass eine Künstlerische Leitung ihre Arbeit am Haus als „Projekt“ beschrieben hat. Das hat mich richtig entsetzt. Ein Theater besteht doch aus einer Gruppe von Menschen, die oft viel länger da sind als die, die kommen, um zu siegen und sich dann auf einen noch besseren Posten befördern zu lassen. Das Wort „Projekt“ sagt alles: Da denkt jemand, es handele sich um eine zeitlich begrenzte Angelegenheit, die nicht in eine weitere Zukunft geplant werden muss und bei der nicht aufgegriffen wird, was schon da ist. Ein riesiges Missverständnis. Unsere Aufgabe und Freude als Künstler ist es, immer wieder neue kreative Wege zu finden. Dazu braucht es ein künstlerisch aufgeschlossenes und mutiges Kollektiv. Wenn aber die Kontinuität kreativer Wege versperrt wird durch das Ego der Leitung, wird es dem Kollektiv schwer gemacht. Das Theater als Werkzeug für eine Person zu begreifen, halte ich für falsch.
Was muss sich ändern?
Puls: Ein Ansatz wäre, Theater oder Kultur nicht als die Erfüller von Erwartungen zu betrachten, sondern vor allem als einen Ort, der neue Impulse, Denkanstöße gibt. Die Visitenkarte eines Intendanten, sein Netzwerk, auf das so viele bei seiner Berufung setzen, enthält ja in der Regel hauptsächlich Bekanntes. Wir aber versuchen, Unbekanntes zu erschließen – und eben nicht nur nachzuahmen oder durchzuexerzieren, was eine Person in ihrem Leben bereits verwirklicht hat. Der künstlerische Körper wird, selbst wenn Intendanten mit den besten Absichten anfangen, aufgrund des Erfüllungsdrucks benutzt. Ich finde das fatal.
Schlötcke: Das verstehe ich. Allerdings kann die Macht der existierenden Strukturen, also des Verwaltungsapparats, der Gewerke, die in aller Regel ja immer an einem Haus bleiben, für einen Intendanten oder ein Leitungsteam tatsächlich ein Problem darstellen. Die gewachsenen persönlichen Beziehungen, die funktionalen und sozialen Hierarchien muss man als Leitungsperson erst einmal verstehen. Und unter Umständen entstehen dabei Schwierigkeiten, sodass zuweilen mit hierarchischen Praktiken reagiert wird. Daher müsste man genau hier ansetzen: Strukturen schaffen, die begünstigen, dass Leitungen, sich selbst hinterfragend, ethische Prinzipien etablieren, die Menschen mitnehmen, ihre Eigenverantwortung und Kreativität fördern, um die kollektive Intelligenz als Essenz des Theaters zum Blühen zu bringen.
Selbst in neoliberalen Modellen wie etwa Talcott Parsons’ Idee „agiler Organisationsstrukturen“ aus den fünfziger Jahren, die jetzt in der Wirtschaft der heiße Scheiß sind, sind Leiterinnen und Leiter eher Dienstleister, die Eigenverantwortlichkeit und Selbstermächtigung ermöglichen, neues Denken herausfordern und weniger nach richtig und falsch suchen – Ermöglicher statt Bestimmer. Solche Ansätze lassen sich natürlich kritisieren, weil sie neoliberale Züge der Selbstoptimierung tragen, aber ich glaube, dass durch das veränderte Rollenverständnis eine andere Ethik entstehen kann. In kollektiveren Strukturen – und da rede ich sicherlich auch ein wenig pro der Strukturen, in denen ich seit Jahren von Jena bis Mülheim arbeite – ist zumindest die Chance größer, dass agile, freiere und weniger entfremdete Arbeits- und Lebenszusammenhänge entstehen können, die funktionalen Abhängigkeiten weniger Raum geben.
Jennicke: Aus meiner Sicht unterscheidet sich das, was Sie gerade beschrieben haben, Herr Schlötcke, nur wenig von dem, was jede Führungskraft als Aufgabe vor sich hat, wenn sie irgendwo neu anfängt. Man findet Gegebenes vor, man hat aber gleichzeitig einen Gestaltungswillen. Da gilt es, die Eigengesetzlichkeit der Organisation so zu verstehen und klug zu lenken, dass die Mitarbeiter motiviert sind und den Gestaltungswillen, den man mitbringt, sich zu eigen machen. Im positiven Sinne, ohne manipulativ vorzugehen. Da sehe ich noch nicht die Spezifik von Theater. Die zweite Frage: Sie arbeiten in kollektiven Strukturen. Worin unterscheiden sich Ihre im Kollektiv getroffenen Entscheidungen von denen, die eine gute Führungspersönlichkeit trifft? Die Genese ist verschieden, das liegt auf der Hand, aber gibt es Unterschiede in der Qualität der Entscheidung?
Schlötcke: Dass im Kollektiv per se bessere künstlerische Entscheidungen gefällt werden, würde ich so natürlich nicht sagen. Kollektive Arbeit aber entspricht viel stärker der Idee des Theaters. Anders als Literatur oder bildende Kunst kann Theater nur im Kollektiven funktionieren, wenn so etwas wie kollektive Intelligenz entsteht. Dass diese Zusammenhänge zu guter Kunst führen, ist nicht automatisch gegeben. Aber die Chance ist vielleicht größer. Es geht letztendlich darum, uns möglichst weit an die Utopie einer nicht entfremdeten Arbeit anzunähern, um eine glaubwürdige Binnenkultur zu entwickeln.
Jennicke: Aber bei wem liegt der größere Mehrwert einer kollektiven Leitungsstruktur: bei den Beschäftigten oder beim Publikum? Schlötcke: Es bedingt sich doch beides! In vielen anderen Bereichen gibt es modernere Formen des Umgangs als am Theater. Und das ist doch ein merkwürdiger Umstand! Wir müssten in unserer Binnenorganisation geradezu Utopisten und Vorreiter neuer gesellschaftlicher Modelle sein. Theater ist eine Binnengesellschaft, die große Chancen hat, das, was auf der Bühne vertreten wird, auch nach innen zu leben. Je größer die Stimmigkeit zwischen dem Innenleben und den Behauptungen auf der Bühne, desto größer ist die Chance, dass Menschen auch das Gefühl haben: Ja, das ist keine Attitüde, sondern da steckt eine Haltung dahinter, die glaubhaft ist. Strukturen und Hierarchien drücken da unter Umständen bis auf die Bühne durch.
Nun können sich aber auch die besten Vorsätze, egal ob als König oder Kollektiv getroffen, in Luft auflösen. In ihrem jüngst erschienenen Buch „Starting a Revolution“ berichten die beiden Start-up-Gründerinnen Naomi Ryland und Lisa Jaspers von ihren Versuchen, bessere Chefinnen zu sein. Tatsächlich scheitern sie zunächst und agieren genauso fies wie ihre alten Chefs. Erst als sie lernen, sich selbst in ihrem Verhalten zu analysieren, können sie das Arbeitsklima in ihrer Firma ändern. Muss jetzt jeder Intendant, jede Intendantin auf die Couch?
Puls: Wem sollte ein Coaching schaden? Es wird immer vorausgesetzt, dass man ein Haus schon verantwortungsbewusst wird leiten können. Der Lernbedarf betrifft aber auch die Mitarbeiter. Das hierarchische Denken ist so fest an den Theatern verankert, dass die viel eingeforderte demokratische Struktur sich nicht ohne Weiteres umsetzen lässt. Warum haben demokratische Leitungsmodelle wie an der Berliner Schaubühne oder am Schauspiel Frankfurt nicht funktioniert? Beteiligte, mit denen ich gesprochen habe, sagten: „Die erwünschten Diskussionen waren einfach so wahnsinnig anstrengend und zeitintensiv, dass man sich irgendwann gewünscht hat, dass jemand sagt, was zu tun ist, damit man sich wieder dem Spielen widmen kann.“ Deswegen denke ich, wäre ein Coaching nicht nur für die Leitung, sondern auch für die Belegschaft ein toller Start, und zwar nicht erst, wenn es brennt. Ich würde fast meinen, dass das erste Jahr einer neuen Zusammenarbeit zwischen Intendanz und Haus eigentlich vor allem diesen inneren Prozessen gewidmet sein müsste. Damit man ein gemeinsames Verständnis und eine Gesprächskultur aufbaut. Klar, auch das braucht Zeit.
Das Problem ist aber – das wurde mir bei einer Umfrage zum Thema Leitungsstrukturen gespiegelt, die ich letztes Jahr zur Faust-Preisverleihung gemacht habe –, dass, ich zitiere: „vielen Menschen in Machtpositionen schlicht der Wille fehlt, ihre Macht zu teilen oder abzugeben. Es fehlt der Wille, im eigenen Betrieb umzusetzen, was mit marktschreierischen Slogans auf der Bühne in Bezug auf die Stadt- und Weltgesellschaft kritisiert wird.“ Darin fühlen sich viele Künstlerinnen und Künstler richtige verarscht. Die Befragten forderten zuallererst mehr Respekt – wozu auch gehört, sich mit dem, was die verschiedenen Abteilungen zur Verfügung stellen, auszukennen. Und da bin ich wieder an dem Punkt: Das kann ein Mensch alleine nicht.
Schlötcke: Natürlich ist Selbstreflexion wesentlich für Menschen, die leiten wollen. Sie müssen sich fragen: Warum traue ich mir zu, andere zu leiten? Mit welcher Haltung tue ich das? In der Königsposition prägt sich vielleicht leichter eine Haltung aus, die den Besitz der Wahrheit für sich reklamiert. Im Kollektiv setzen sich bestimmte Wahrheiten eher prozessual durch. Noch besser ist es, gar nicht mit richtig oder falsch zu hantieren. Wir wissen alle, wie schwer es ist, über Kunst zu sprechen.
Ich glaube zudem weniger an die Idee des Trainings – jedes Unternehmen schickt seine Managerinnen und Manager zu irgendwelchen Trainings –, sondern an Erfahrungen, die man gemeinsam macht. Nur über Erfahrung bildet sich ein wirklich anderes Denken aus. Menschen in Leitungspositionen müssen diese Erfahrungen für sich und den „Betrieb“ – also das Kollektiv – stimulieren.
Die Coaching-Idee geht über die Frage, warum und wie ich leite, aber noch hinaus. Eine Führungspersönlichkeit, sagen die beiden Gründerinnen, müsse lernen, durch Selbstanalyse eigene Fehler, eigene Schwächen, auch ihren eigenen Narzissmus einzugestehen. In Zürich müssen Intendanten zum Beispiel ein psychologisches Assessment-Center durchlaufen. Wäre das auch hierzulande ein erstrebenswertes Modell?
Jennicke: Ich weiß nicht, ob ein Assessment-Center das geeignete Mittel ist, die besseren Intendantinnen und Intendanten zu finden. Unter Coaching verstehe ich tatsächlich auch etwas anderes als Training. Coaching heißt, sich selbst als Führungspersönlichkeit zu reflektieren. Das ist für jede Führungskraft ein wichtiges Instrument. Es kann in einer kollektiven Leitungsstruktur schon impliziert sein ebenso wie in einem guten Führungsteam mit klarer Hierarchie.
Schlötcke: Das kann ich zumindest aus meiner Erfahrung sagen: Natürlich weist mein Kollege mich darauf hin, wenn ich in einer bestimmten Situation Unsinn geredet oder mich nicht verhältnismäßig verhalten habe. Dazu braucht es allerdings Offenheit untereinander. Ich glaube, je größer die Hierarchie, desto geringer die Offenheit.
Jennicke: Es leuchtet mir total ein, dass man in den inneren Strukturen adäquat zu dem sein sollte, was man auf der Bühne vertritt. Aber ich kann mir aus Verwaltungsperspektive nur schwer vorstellen, bei Etatfragen immer mit einem Kollektiv zu verhandeln. Es kostet sehr viel mehr Zeit, die am Ende auch Geld bedeutet.
Schlötcke: Das, würde ich sagen, ist die praktische Organisation von Arbeit, weniger die innere Verfasstheit. Repräsentanz und Verantwortung in diesen Fragen müssen geregelt sein. Wenn ich mit der Stadt verhandele, sitze ich dort alleine, oder wir sind höchstens zu zweit.
Puls: Mir ist es nicht so wichtig – bitte verzeihen Sie, Frau Jennicke –, ob es für Sie anstrengend ist, mit uns zu verhandeln. Wir fänden schon eine Vertretung, die mit Ihnen spricht, Sie müssen nicht 14, vierzig oder vierhundert Leuten gegenübersitzen. Ich beziehe diese ganzen Prozesse, über die wir gerade reden, auch hauptsächlich auf die interne Arbeit im Haus und nicht darauf, ob sie einen Mehrwert für das Publikum haben.
Jennicke: Da unterscheiden sich natürlich unsere Funktionen. Als Kulturpolitikerin muss es mich sehr wohl interessieren, ob das Theater in meiner Stadt publikumsrelevant ist oder nicht. Theater ist eine Kollektivkunst eben auch in der Rezeption. Klar, wenn das Klima stimmt, wenn sich der Einzelne von der Kassenfrau über die Reinigungskraft bis hin zur Schauspielerin gemeint fühlt und dem nachgehen kann, wofür er oder sie hier angetreten ist, dann spürt ein Publikum das. Das hat für mich aber nichts mit Führungsstrukturen zu tun, sondern mit der Führungskultur.
Puls: Eine Geschichte, die ich erlebt habe: Ein Regisseur wird engagiert, der einen hohen Marktwert hat. Alle freuen sich, mit dieser künstlerischen Person zusammenzuarbeiten. Es stellt sich aber heraus, dass dieser Regisseur, obwohl gar nicht alte Garde, Instrumente des Machtmissbrauchs auf der Probe nutzt. Es gab Beschwerden. Monate später berief die Theaterleitung die beteiligten Ensemblemitglieder ein, um die Vorgänge auszuwerten. Wir wurden befragt, ob dieser Regisseur noch einmal bei uns am Haus arbeiten sollte. Ich sagte nein, denn ich fand, dass gerade wir es uns nicht leisten können, jemanden zu beschäftigen, der, egal wie hoch sein Marktwert ist, egal, wie genialisch am Ende die Inszenierung ist, sich so benimmt. Es stellte sich aber heraus, dass dies nur eine Scheindebatte war, denn dem Regisseur war bereits eine weitere Inszenierung versprochen worden. Uns wurde lediglich freigestellt, ob wir mitmachen wollen oder nicht. Manche wollten, andere waren vorerst unentschieden. Ich lehnte rundweg ab. Ich fürchte, dadurch habe ich das Wohlwollen der Intendanz verloren, weil ich eine „Querulantin“ war. So habe ich nicht nur Machtmissbrauch auf den Proben miterleben müssen, sondern auch, dass Widerspruch eben doch bestraft wird.
Schlötcke: Das ist Shakespeare. Intrigen, Verstrickungen, steht alles in den Texten, die man auf der Bühne in irgendeiner abstrakten Politik stattfinden lässt, aber in Wahrheit spielt sich alles im Theater ab. //