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In der Vergangenheits-Cloud
Ein Dramatiker-Workshop im Libanon zeigt syrischen Flüchtlingen, wie sie ihre Lebensrealität in Fiktion transformieren und damit Distanz zum Erlebten herstellen
von Erik Altorfer
Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)
Assoziationen: Sprechtheater Dramatik Asien
Von der Hotelterrasse im Libanongebirge kann der Blick nach Westen in Richtung Beirut und Mittelmeer schweifen – oder nach Osten zu schneebedeckten Bergen, wo im Winter Ski gefahren wird. Dahinter liegt Syrien. Für eine Woche bietet ein Viersternehotel acht syrischen Flüchtlingen ein Time-out aus dem prekären Alltag. Hier findet ein Workshop mit dem syrischen Dramatiker Mudar Alhaggi statt, in dem die jungen Teilnehmer erste Erfahrungen mit dem dramatischen Schreiben machen.
In den Pausen finden sich alle auf der Terrasse ein. Es wird viel geraucht. Maher erzählt, wie er im berüchtigten Jarmuk-Camp in Damaskus wohnte, als es bombardiert wurde. Er hörte von zahlreichen Verletzten und Toten, wollte helfen und eilte los – als er dann dort eintraf, war er jedoch paralysiert. Statt erste Hilfe zu leisten, besorgte er sich Zigaretten und rauchte – zum ersten Mal in seinem Leben. Seit diesem Tag ist er starker Raucher.
Auf weißen Plastikstühlen werden die gleichen Geschichten wieder und wieder erzählt. Die Flüchtlinge befinden sich in Parallelwelten der anderen Art – in einer Cloud der Vergangenheit, in Erinnerungen an tote Verwandte, zerstörte Häuser und Städte. Trennung und Verlust begleiten nun ihr Leben. WhatsApp-und Skype-Töne sind der Soundtrack dieser Woche. Smartphones sind für die Flüchtlinge wie ein zweites Herz, die Verbindung zu Menschen, die weit weg sind. Mit zahlreichen Fotos, Videos und Songs sind die Geräte ein Erinnerungsarchiv an eine verlorene Welt. Und wenn Nachrichten aus der Gegenwart eintreffen, sind das immer wieder Zäsuren in unserem Kurs. Maher erfährt auf diesem Weg, dass er bald nach Kanada ausreisen kann, Suzan liest, dass ein guter Freund gestorben ist. Klingeltöne als Lotterie zwischen Hoffnung und Verlust.
„Vielleicht brauchen wir Syrer eine Therapie“, meint Hanadi trocken. Ihr Freund lebt noch immer in Syrien, bis vor kurzem saß er in Jarmuk fest, wie Hanadi zuvor auch. Seit er von einem Scharfschützen in den Kopf getroffen wurde und im Camp nicht angemessen verarztet werden konnte, ist er auf einem Auge blind. Hanadi hat im Workshop begonnen, auf der Basis ihrer Liebesgeschichte einen Theatertext zu schreiben. Für sie ist die Arbeit als Autorin die Möglichkeit, ihre Lebensrealität und die damit verbundenen Gefühle in eine Fiktion zu transformieren. Das fordert Mudar Alhaggi von den Teilnehmern: Sie sollen ihre Erlebnisse als Geschichten ansehen – und mit ihnen arbeiten, als wären sie Geschichten.
Die jungen Autoren präsentieren Szenarien, die im Kontext ihrer Lebensrealitäten spielen. Es geht um Krieg, Gewalt, Unsicherheit, problematische private Verhältnisse, aber auch immer wieder um Konflikte, die aufgrund divergierender Wertvorstellungen entflammen: Genderfragen, Ideologie, Politik. Zoumana schreibt über die Schwierigkeiten junger Frauen, sich in der Familie und in der Beziehung zu behaupten und ein selbstbestimmtes Leben mit Studium und Arbeit zu führen. Maher setzt einen Vater ins Zentrum, der die Revolution über das Familienwohl stellt, die Rebellen finanziell unterstützt und so seine Familie in ihrer Existenz gefährdet. Alhaggi hört genau zu und kritisiert mit klaren Argumenten. Seine Nähe zu den Teilnehmern und ihr Vertrauen machen es möglich, nüchtern über hochemotionale Themen zu sprechen – und damit Distanz zum Erlebten herzustellen. Mit Beispielen aus seinen eigenen Theaterstücken erläutern wir das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktion und wie ein Autor sich von der Realität entfernen kann – und so Gestaltungsmacht erhält.
Die meisten Teilnehmer sind mitten in ihrem Studium in den Libanon geflüchtet. Die Fortsetzung ist wegen der hohen Studiengebühren praktisch unmöglich. Sie befinden sich in einem Provisorium und schlagen sich mit schlecht bezahlten inoffiziellen Jobs für NGOs durch. Viele Familien sind ohne Väter, trotzdem muss Geld verdient werden, für Frauen geht das oft nur gegen den Widerstand ihrer Brüder. Eigentlich dürfen die syrischen Flüchtlinge im Libanon nicht arbeiten. Zudem besteht seit Januar eine strenge Visumspflicht. Außer der Türkei sind die Länder in der näheren Umgebung praktisch unerreichbar, und ein dreimonatiges Touristenvisum für den Schengenraum ist ohne eine offizielle Einladung nicht zu bekommen.
Youssef versuchte in den letzten Jahren mehr als 15 Mal die Flucht nach Europa. Er hat aufgehört zu zählen, weiß aber, dass ihn das über 10 000 Dollar gekostet hat. Abdullah war 19 Jahre alt, als er mit seinen Eltern in den Libanon floh. In Damaskus hatte er Islamisches Recht studiert, nun lebt er mit seiner Familie unter absolut prekären Verhältnissen in einem Camp im Bekaa-Tal, das für seinen Weinbau international bekannt ist. Vor wenigen Monaten mussten sie ihr illegales Camp innerhalb von fünf Tagen räumen. Mit einem gewissen Stolz erzählt er vom Zelt seiner Familie, das ein einfaches Haus mit Fenstern und Türen ist, mit großem Aufwand selbst gebaut – entsprechend mühselig und aufwendig waren der Abbruch und Neubau am jetzigen Standort. Für die inzwischen beendete Zusammenarbeit von UNICEF mit IKEA, für die der Einrichtungskonzern Leichtbau-Metallhäuser entwickeln wollte, hat Abdullah nur Spott übrig. Wenn sogar sein solid gebautes Zelthaus kaum den libanesischen Winterstürmen standhält, dann hätte das IKEA-Produkt keine Chance.
Als die ganze Gruppe in der Residenz der Schweizer Botschaft in Beirut zu einem Empfang eingeladen wird, fragt die syrische Theatermacherin und Aktivistin Hanane Hajj Ali in die Runde, wie die Flüchtlinge damit umgehen können, nach einer Woche in einer friedlichen Luxusumgebung wieder zurück in ihre Lebensrealitäten zu gehen. Abdullah ergreift ohne zu zögern das Wort: „Wenn wir nicht im Theaterkontext ge -arbeitet hätten, würde es uns danach sehr schlecht gehen. Wir wären traurig und enttäuscht. Aber wir haben hier gelernt, dass das Theater größer ist als das Leben. In unserer Fantasie haben wir die Grenzen der Realität überschritten.“ //