Theater der Zeit

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Ganz nah dran am „Gefühlskraftwerk Oper“

Mit seinen Raumbühnen öffnet der Szenograf Sebastian Hannak Horizonte für ein demokratisches Theater. Mit technischen Konstruktionen und digitaler Technik schafft er dem Publikum Erlebnisse

von Elisabeth Maier

Erschienen in: Theater der Zeit: Neue Dramatik (03/2023)

Assoziationen: Musiktheater Kostüm und Bühne Akteure Sebastian Hannak Staatstheater Kassel RAUMBÜHNE HETEROTOPIA

Das Pandämonium für „Wozzeck“ in der Regie von Florian Luz am Staatstheater Kassel 2021
Das Pandämonium für „Wozzeck“ in der Regie von Florian Luz am Staatstheater Kassel 2021Foto: Sebastian Hannak

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Das spielsüchtige Kind sitzt vor dem Bildschirm und zockt. ­Seine Mutter Marie ertrinkt im Alkohol. Verzweifelt versucht Wozzeck, den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten. Doch so sehr er sich auch abstrampelt. Mehr als Erbsensuppe ist nicht drin. Bilder aus dem Alltag des Protagonisten Wozzeck in Alban Bergs Oper sieht das Publikum im Pandaemonium am Staatstheaters Kassel als Ausschnitte über Live-Kameras. Die Spielebenen hat der Szenograf Sebastian Hannak mit einer ­Metallbrücke verbunden. Die Zuschauer:innen sitzen in Gruppen, verteilt über den gesamten Raum. 2021 war das nicht ohne ­Corona-Abstand möglich.

Immer wieder hetzt der getriebene Mann aus dem Prekariat an ihnen vorbei. Wozzeck liefert den Lebensmittelersatz Bio­fuel aus, um den sich das Geschehen in Florian Lutz‘ politischer Opernregie dreht. Man sieht den gehetzten Mann im braunen ­Overall für Augenblicke, riecht seinen Schweiß. Dieses Live-­Erlebnis macht Hannaks Bühnenraum so besonders. Als „Musiktheaterparlament“ beschreibt der Künstler die Raumbühne, die für ihn im besten Sinn demokratisch ist. So taucht das Publikum in das immersive Theatererlebnis ein. Neben der weiß gekachelten Praxis des Arztes sitzen Zuschauer:innen. Hautnah erleben sie mit, wie er den Menschen Wozzeck zum Versuchsobjekt macht.

Die Vision eines „demokratischen Musiktheaters“ hat der Bühnenbildner Sebastian Hannak mit dem Kasseler Intendanten und Musiktheaterregisseur Florian Lutz entwickelt. „Partizipative Formate im Theater zu erschaffen“, das reizt den Kasseler Hausszenografen, der mit seiner Frau, seinem Sohn und der Tochter in der Universitätsstadt Heidelberg lebt. In den Altstadtgassen kommt der international gefragte Künstler zur Ruhe, erholt sich vom schnelllebigen Theaterbetrieb. Der Zwang, in Corona-Zeiten das Publikum möglichst luftig im Raum zu verteilen, hat die Konzeption des Pandaemoniums zwar erschwert, aber auch beflügelt. „Wir haben den Raum komplett digital entwickelt“, sagt Hannak. Er arbeitet ansonsten gern mit dem klassischen Holzmodell, das zwischen den Werkstätten hin- und hergereicht wird. Mit Mozilla Hubs haben er und sein Team die Raumbühne in Kassel entworfen. Auf dieser Basis haben die Techniker:innen das Modell dann umgesetzt. Sechzig Tonnen Gerüstmaterial haben die Arbeiter:innen für das Großprojekt verbaut.

Nachhaltigkeit ist für den Künstler Hannak, der sich mit seinen spektakulären Bühnenkonstruktionen in ganz Europa einen Namen gemacht hat, ein wichtiges Thema. Material wird wiederverwendet. Die Bauten werden für mehrere Produktionen genutzt. Denn es geht Hannak auch darum, schonend mit der Arbeitskraft umzugehen. In der Kasseler Konstruktion spielte auch Giacomo Puccinis Oper „Tosca“ in der Regie von Sláva Daubnerová. Das Konzept überzeugte auch das Fachpublikum. Für die Raumbühne wurden der Kasseler Intendant und Opernregisseur Florian Lutz und Hannak mit dem Opus-Bühnenbildpreis der Messe Frankfurt ausgezeichnet. Der deutsche Theaterpreis Der Faust ging 2021 ebenfalls an Florian Lutz‘ und Sebastian Hannaks „Wozzeck“.

„Das Publikum noch näher an das Bühnengeschehen bringen“ möchte Sebastian Hannak in der neuen Spielzeit in Kassel. Deshalb entwickelt der Szenograf die Raumbühne Pandaemonium weiter. „Das ist erst jetzt so richtig möglich“, findet der 46-Jährige. Denn sein Konzept lebt „von der physischen Nähe im Gefühlskraftwerk Oper“. Auf dem Laptop zeigt der Künstler, wie er das Kasseler Publikum in George Bizets Opernklassiker „Carmen“ ganz nah in das Geschehen holen will. Anfangs sitzen die Zuschauer:innen auf schlichten Holzbänken. Über ihnen schweben rote und gelbe Ballons. „Neben ihnen sitzen die Sänger:innen des Opernchors.“ Von dieser grenzüberschreitenden Nähe leben Hannaks faszinierende Raumkonzepte. Künstler:innen und Rezipient:innen führt er radikal zusammen. „Solche Nähe muss man aushalten“, sagt der Künstler. Das Lächeln in seinem Gesicht ist nicht zu übersehen. Mit Musik in 360 Grad und fordernden Perspektivwechseln denkt er das Gesamtkunstwerk Theater neu.

In einer Zeit, da die Bühnen im Wettstreit mit den neuen Medien um ihr Publikum kämpfen müssen, geht es dem Künstler auch darum, die politische Bedeutung der Künste schon im Raum zu spiegeln. Das Publikum betritt den Theaterraum in Kassel über die Verwaltungsräume. So gewährt Hannak Ein­blicke, die das Publikum so nicht kennt. Seine Träume vom Gesamtkunstwerk Theater, das mitten in der Gesellschaft steht, haben historische Wurzeln. Da denkt Hannak an den Entwurf eines „Totaltheaters“ des Bauhausgründers Walter Gropius 1926 für den politischen Avantgardisten Erwin Piscator. Er träumte von einem Bühnenraum, der die Theaterränge aus feudalistischer Zeit sprengt und der die Zuschauer:innen „ins Geschehen hineinreißt“. Die Kunst auch auf visueller Ebene „mitten in der Gesellschaft“ zu verorten, prägte Piscators politische Theaterphilosophie. Das Projekt scheiterte in den 1920er-Jahren, weil sich die aufwendigen technischen Bauten damals nicht realisieren ließen. Den braven Soldaten Schwejk aus dem Roman des tschechischen Schriftstellers Jaroslav Hašek ließ Piscator über ein Laufband von Ort zu Ort eilen. Die Maschinerie ratterte damals so laut, dass das Publikum das gesprochene Wort kaum noch verstand. Grenzen wie diese kennt die Theaterkunst heute angesichts der digitalen Medien nicht mehr. Schnelle Wechsel der Perspektiven macht die Kamera möglich. Dennoch sind Hannak die historischen Vorbilder wichtig.

Die Raumbühne

Mit der Raumbühne arbeitet der innovative Bühnenbildner schon seit Langem. Schon 2014 hat er am Badischen Staatstheater in Karlsruhe Martin Nimz‘ Inszenierung von Hermann Hesses Spätwerk „Das Glasperlenspiel“ in einer Raumbühne realisiert. Das Publikum saß in einem siebeneckigen weißen Bühnenkonstrukt. Je nach Sitzplatz wandelte sich die Perspektive. Die Video­bilder von Thorsten Hallscheidt zogen die Betrachter:innen in den Bann. Wie ein See, in dem Eisschollen treiben, hat Bühnenbildner Hannak den Raum konzipiert, der nach unten spitz zuläuft. Clemens Rynkowskis assoziative Musik durchbrach die Stille. Das Panoramaband über den Köpfen der Zuschauer:innen wurde von Film­bildern überspült: Großstadtvisionen, Kriegsszenen und Ornamente schwirrten um sie herum. Mit diesem 3D-Theater überschritten Hannak und Nimz Grenzen. Dass diese Raumerfahrung ohne modernste Technik nicht möglich wäre, zeigte die bemerkenswerte Inszenierung im Schauspiel. Die Produktionssoftware hat Bernd Lintermann entwickelt, der mit seinen filmtechnischen Innovationen 2015 für einen Oscar nominiert war.

Neue Perspektiven im Musiktheater

Mit der Raumbühne Heterotopia an der Oper Halle dachte ­Sebastian Hannak sein Konzept der Raumbühne weiter. Damit betrat der Szenograf gerade im starren Betrieb des Musiktheaters künstlerisches Neuland. Für das wegweisende Projekt wurde er 2017 mit dem Theaterpreis Der Faust ausgezeichnet. Wie ver­ortet Hannak sein szenografisches Konzept im Kontext der neuen Medien? Für ihn ist das Theater „eines der Bollwerke des echten und unmittelbaren Erlebens“, schreibt er in dem von ihm und ­Florian Lutz 2018 im Verlag Theater der Zeit herausgegebenen Buch „Raumbühne Heterotopia. Neue Perspektiven im Musiktheater“. Angesichts der Medienflut hat das Theater da die Pflicht, gegenzusteuern: „Je mehr unsere Welt zusammenschnurrt auf weltweite Echtzeitberichterstattung, die uns kaum mehr erreicht, desto mehr kann das Theater mit einem echten Erlebnis punkten.“ Im Gegensatz zu Streaming finde Theater „immer hier und jetzt“ statt. Hannak denkt sein Theater immer politisch. Auch bei klassischen Stücken hat er immer die aktuellen Bezüge im Blick.

An der Stuttgarter Kunstakademie hat Hannak Bühnen- und Kostümbild studiert. Da waren seine Lehrmeister die Theatergrößen Jürgen Rose und Martin Zehetgruber. Von ihren starken, aber sehr gegensätzlichen Positionen habe er profitiert, blickt Hannak heute dankbar zurück. Roses bilderstarke, klug an der Dramaturgie orientierte Bühnenbilder unterscheiden sich deutlich von Zehetgrubers innovativen Theaterräumen. In diesem Spannungsfeld studieren zu dürfen und seine eigene Position zu entwickeln, das hat Sebastian Hannak gereizt. In Los Angeles hat er bei dem Pop-Art-Künstler David Hockney gearbeitet. Der Blick des Briten auf die schillernde Welt der US-amerikanischen Westküste und ihre Schattenseiten hat Hannak inspiriert. Danach konzentrierte er sich aber ganz auf die Theaterarbeit, arbeitete mit Starregisseuren wie John Neumeier, Klaus-Michael Grüber und Johann Kresnik.

Die Möglichkeiten des Musiktheaters hat Hannak aber schon in seiner Zeit an der Stuttgarter Akademie ausgelotet. Da hat ihn das Forum Neues Musiktheater beeinflusst, das der damalige Stuttgarter Opernintendant Klaus Zehelein geprägt hat. Internatio­nale Künstler:innen dachten in dieser „Oper im Labor“ über neue Möglichkeiten im Musiktheater nach. In innovativen Projekten untersuchten die jungen Szenograf:innen die Möglichkeiten neuer Medien und Technologien. In diesem Experimentierraum in der schwäbischen Großstadt traf sich die junge europäische Szene, um gemeinsam neue Formate auszuprobieren. Von diesem Netzwerk profitiert Hannak, der heute an großen Häusern in Deutschland und Europa arbeitet.

Bühnenkonstrukte für alle Sparten

Obwohl Hannak inzwischen als Hausszenograf am Staatstheater Kassel die Möglichkeit hat, die künstlerische Linie des Hauses und seine Raumbühnenprojekte langfristig zu entwickeln, arbeitet er weiter an anderen Häusern. Dabei faszinieren den Künstler gerade die Wechsel zwischen den Sparten. Am Staatstheater Karlsruhe hat er mit der slowakischen Regisseurin Sláva Daubnerová George Sands „Gabriel“ in Szene gesetzt. Da geht es um einen jungen Adligen in der Renaissance, der erfährt, dass er biologisch eine Frau ist. Das Spiel mit Geschlechterrollen, die junge Menschen vor Jahrhunderten ebenso einengten wie heute, verortet Hannak in einem Raum, der von Pfosten begrenzt ist. Unter der Bühne liegen zertrümmerte Säulen aus Gips. Aus dem Gefängnis ihres zugewiesenen Geschlechts befreit sich die Hauptdarstellerin Swana Rode mit einem grandiosen Tanz in die Freiheit. Solche Spielräume für die Künstler:innen zu schaffen, ist Hannak wichtig. Denn trotz aller technischen Finessen wirken seine Bühnenapparate leicht, schwerelos fast. Gerade in dieser aktuellen Karlsruher Arbeit zeigt sich, dass Hannak kein reiner Konzeptkünstler ist. Sein Gespür für die Arbeit und für die Bedürfnisse der Sänger:innen, Schauspieler:innen und Tänzer:innen macht die Faszination seiner so unterschiedlichen Theaterarbeiten aus.

Eigene Grenzen hat Hannak bei seinen Arbeiten für das Ballett überschritten. Mit der südkoreanischen Tänzerin und Choreografin Eun Me Anh hat er ebenso gearbeitet wie mit dem heutigen Salzburger Ballettchef Reginaldo Oliveira, der am Staatstheater Karlsruhe seine ersten Schritte als Choreograf wagte. Für seine Choreografie „Das Tagebuch der Anne Frank“ hat Hannak einen Raum geschaffen, in dem sich die Tänzer:innen entfalten können. Zugleich bleiben in den Köpfen der Zuschauer:innen starke Bilder zurück, die an das Leben des heranwachsenden Mädchens erinnern, das im Konzentrationslager von den Nationalsozialisten ermordet worden ist. Offene Räume für die Bewegung des Tanzes zu finden, das reizt den Schöpfer großer Raumbühnen-Apparate. Sein Traum ist es, Bühnenkonstrukte zu erschaffen, in denen sich alle Sparten entfalten dürfen. „Uns geht es darum, die Zuschauer:innen zum Teil des Theatererlebnisses zu machen.“ Mit diesem Ziel vor Augen ist dem innovativen Szenografen vor der Konkurrenz von Netflix und anderen Theaterformaten nicht mehr bange.

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