Theater der Zeit

Auftritt

Wasserburg am Inn: Das verlorene Floß der Anarchie

Theater Wasserburg: „Die wahre Geschichte des Ah Q“ von Christoph Hein nach Lu Xun. Inszenierung Uwe Bertram. Musikalische Leitung Georg Karger

von Christoph Leibold

Erschienen in: Theater der Zeit: BRACK IMPERieT – „Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo (09/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Bayern Theaterkritiken Theater Wasserburg

Die Revolution vergisst ihre Kinder: Nik Mayr als Wang Krätzebart in „Die wahre Geschichte des Ah Q“ von Christoph Hein nach Lu Xun, Regie Uwe Bertram am Theater Wasserburg.
Die Revolution vergisst ihre Kinder: Nik Mayr als Wang Krätzebart in „Die wahre Geschichte des Ah Q“ von Christoph Hein nach Lu Xun, Regie Uwe Bertram am Theater Wasserburg.Foto: Christian Flamm

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Die Bretter bedeuten auch hier die Welt, aber sie schwanken. Und: Die Erde ist weder Kugel noch Scheibe, sondern eine quadratische Fläche, umgeben vom schwarzen Nichts des leeren Bühnenraums. Wie ein Planet, der seine Umlaufbahn verlassen und sich in den unendlichen Weiten des Weltraums verirrt hat. Oder wie ein Floß auf hoher See, ausgeliefert den rhythmischen Klangwogen einer Live-Band.

Fünf Menschen haben sich auf dieses Floß gerettet, also auf die Plattform auf der Bühne des Theaters Wasserburg, die mittig nur auf einem einzigen Stützpfeiler ruht und mit diesem offenbar durch ein Kugellager verbunden ist. Das hat zur Folge, dass die fünf Personen sich stets gleichmäßig auf der Fläche verteilen müssen, um die Balance zu halten. Und während diese Menschen fortwährend und behutsam die Gewichte verlagern, um nicht ins Nichts zu schliddern, erzählen sie reihum Geschichten. Gleichnishaftes und Exemplarisches, das von einer aus den Fugen geratenen Welt handelt und vom menschlichen Ringen, in ihr nicht aus dem Tritt zu kommen.

Beobachtet und belauscht werden die fünf auf dem Floß von zwei weiteren Figuren, dem titelgebenden Ah Q und seinem Freundfeind Wang. Hilmar Henjes und Nik Mayr haben sich auf den Technikbrücken zur rechten und linken Seite der Bühne niedergelassen und diskutieren miteinander über die Köpfe der anderen unter ihnen hinweg, kommentieren deren Welt-Erzählungen und vor allem die Notwendigkeit der Veränderung dieser Welt durch eine Revolution, die sie herbeisehnen, ja herbeizureden versuchen, während das Leben an ihnen vorbeirauscht.

Das steht nur partiell so in Christoph Heins 1983 am Deutschen Theater in (Ost) Berlin uraufgeführtem Stück „Die wahre Geschichte des Ah Q“, das damals auf etlichen Bühnen in beiden Teilen Deutschlands nachgespielt wurde, ehe es dann weitgehend in der Versenkung verschwand. Uwe Bertram, Intendant am Theater Wasserburg und Regisseur der dortigen Aufführung, ist gebürtiger Magdeburger und DDR-sozialisiert. Er hat den Stoff nun wieder ausgegraben und gemeinsam mit seinem Ensemble stark bearbeitet. Außer Ah Q und Wang sind sämtliche Figuren und die komplette, stark verwickelte Handlung gestrichen. Geblieben sind nur die Dialoge der beiden Hauptfiguren, die als Rahmen dienen, in den die Regie die Fremdtexte eingebettet hat, die die fünf Figuren auf dem Floß vortragen: Märchen, Romanfragmente, Dramenausschnitte, die allenfalls insofern in Zusammenhang stehen, als es sich bei sämtlichen Texten um Versuche der Welt- und Daseinsdeutung im weitesten Sinne handelt.

Das Setting erinnert an das Theater des Absurden. Henjes und Mayr geben Ah Q und Wang als sich spitzfindig beharkende Eigenbrötler, gekleidet wie Landstreicher. Zwei Prekariatsgestalten, die über den prekären Zustand der Welt sinnieren. Heins Stück, basierend übrigens auf einer Novelle des chinesischen Dichters Lu Xun, wirkt hier so, als hätten sich Bertolt Brecht und Samuel Beckett zu einer Schreibgemeinschaft zusammengeschlossen. Wladimir und Estragon haben sich in ein Lehrstück verlaufen und warten nicht mehr auf den erlösenden Auftritt von Godot, sondern die Lösung aller Probleme durch den Umsturz der Verhältnisse. Und während Godot bei Beckett nie kommt, kommt hier zwar die Revolution, aber sie findet anderswo statt, ohne Wang und Ah Q. Die Revolution vergisst ihre Kinder.

Das Konstruktionsprinzip des Abends erschließt sich nicht sofort, zumal die Montage der eingefügten Geschichten Assoziationen von Uwe Bertram und seinem Ensemble geschuldet ist, die Außenstehenden beliebig erscheinen müssen. Daher braucht es beim Zuschauen eine Weile, bis man sich zurechtfindet in dieser Inszenierung, die mitunter haarscharf an der Kopf- und Konzeptlastigkeit vorbeischrammt. Und dennoch: Wer sich auf die erratische Anlage der Aufführung einzulassen vermag, für den entwickelt sie mit jedem Trommelschlag und jedem Saxofonton der Band ihre ganz eigene Sog- und Sinnhaftigkeit. All die Geschichten der Menschen auf dem Floß und all die Grübeleien von Ah Q und Wang wirken dann wie Steine, die man ins Wasser wirft, worauf sich kreisförmig Wellen an der Oberfläche ausbreiten. Steine des Anstoßes zum Selber-Weiterdenken. //

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