Theater der Zeit

Landvermessung: der Osten

Ohne mich

Konstanze Lauterbach setzt mit „Schiwagos Odyssee“ in Weimar der Empörungsdebatte die Möglichkeit des Irrtums entgegen

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)

Assoziationen: Thüringen Sachsen-Anhalt Sachsen Akteure Deutsches Nationaltheater & Staatskapelle Weimar

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Hier wurde einst die Verfassung der ersten deutschen Republik beschlossen. Davon scheint die Deutsche Bahn nichts mehr zu wissen, sie lässt ihre ICEs nur noch selten in Weimar halten. Wirtschaftlich liegen Erfurt und Jena in Thüringen vorn. Doch in Geist und Kultur versucht Weimar Anschluss an die Welt zu halten – auch mit einem verordneten Provinzbahnhof.

Das Nationaltheater zeigt Konstanze Lauterbachs Inszenierung „Schiwagos Odyssee“ (nach Motiven von Boris Pasternak): „Und immer wieder geht die Sonne auf!“ Das klingt wie ein Mantra. Man weiß nie, was diese „ewige Wiederkehr des Gleichen“, die der in Weimar gestorbene Nietzsche beschwor, für Folgen haben wird. Wieder ein neuer Tag! Bleibt alles so schlecht, wie es war, oder wird es – im Versprechen, nun endlich werde alles gut – nur noch schlechter? Das zur Ausgangsbefindlichkeit aller Revolution: Sorge. Doch die Lokomotiven der Revolution sind aus Stahl. Ein berühmtes Agitationsbuch des postrevolutionären Sowjetreichs, Nikolai Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“, war in der DDR Schullektüre. Heldenpathos herrschte. Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“, der Blick auf die Blutspur, die die Lokomotive der Revolution hinterließ, war selbstverständlich verboten. All die Opfer, waren sie sinnlos oder doch der hohe Preis für einen notwendigen Fortschritt? Um diesen neuralgischen Punkt geschichtlicher Selbstverständigung kreisen die Bilder. Eine Ikonografie des Leidens an der Revolution entsteht. Und dieses Leiden ist nicht zuletzt das derer, die auf diese Revolution gehofft hatten, Teil von ihr waren. Bis wohin geht der Glaube, ehe er sich endlich zum rettenden Verrat entschließt?

Boris Pasternaks Vater, der Maler Leonid Pasternak, war mit Rilke befreundet. Sohn Boris studierte in Marburg Philosophie, verstand sich als Russe ebenso wie als Europäer. Der Fanatismus der Bolschewiki, ihre Entschlossenheit zur Gewalt stießen ihn ab. „Wir werden siegen!“ – so eine der Losungen, die im Nationaltheater über die Bühne getragen werden. Wie hier überhaupt ein ständiger Strom von Menschen vorbeizieht, aus dem Einzelne kurz auftauchen, um dann wieder in ihm zu versinken. „Doktor Schiwago“ zeigt uns einen Intellektuellen – ein Alter Ego Pasternaks – inmitten einer Volkserhebung, die ihm fremd bleiben muss. Neu sind immer nur die anderen. Man selber schleppt so viel Vergangenheit mit sich, dass man damit kaum je in der Zukunft anlangt. Wem also gehört diese Zukunft? Denen, die „Frauen und Kinder wie Hühner schlachten“? So die postrevolutionäre Bürgerkriegsrealität. Der rote Stern im Hintergrund verblasst. „Nieder mit Lenin und Pferdefleisch!“, riefen die Arbeiter der Putilow-Werke, die den Aufstand gegen die alte Macht mit angeführt hatten. Die neue Macht antwortete auf altbewährte Weise mit Erschießungen. Wirklich neu ist nur das Ausmaß. Der Terror gilt als Allheilmittel – und es heilt gründlich, auch die revolutionären Matrosen von Kronstadt, die plötzlich zu Konterrevolutionären erklärt werden.

Konstanze Lauterbach liegt ein „Bioskop“ Schiwagos fern. Ihr geht es um den intellektuellen Ausgangspunkt der Geschichte: der Einzelne inmitten einer Umwälzung, die nicht die seine ist. Theoretisch kann er durchaus verstehen, was die Massen zur Revolte treibt – aber seine Skepsis trennt ihn von aller Euphorie des Neuanfangs. Da bleibt einer lebenslang ein Fremdkörper in seiner Umgebung, unfähig, sich anzupassen oder gar sich an den neuen Losungen zu begeistern. Der Mensch hier: ein autonomes Sandkorn im großen Getriebe.

Insofern ist diese auf kluge Weise Skepsis nährende Weimarer „Schiwago-Odyssee“ wohl der notwendige Schritt über die bloße Empörungsdebatte hinaus. Bleibt nach dem Aufstand denn nur der Ausnahmezustand? Hans Mayer hat das Grundthema des „Doktor Schiwago“ sehr treffend einmal das „totale Nicht-Engagement eines Menschen“ genannt. „Ohne mich“ lautet die Antilosung. Aber gibt es solch Abseits-Stehen von der Geschichte überhaupt? Ohne die, die nicht mitmarschieren im großen Zug der Ewig-Morgigen, ohne die Helden der Passivität, gäbe es auch kein Sich-Besinnen mehr, keine Katharsis. Wir sehen in Konstanze Lauterbachs Regie einen Juri Schiwago (Simon Zagermann), den eine innere Stimme lebenslang zögern lässt. Pasternak in seinen Aufzeichnungen: „Vielleicht lügt sie aber, die innere Stimme? Vielleicht hat die schreckliche Welt recht?“ Allein in dieser offen gelassenen Möglichkeit, man selbst könnte sich irren, liegt jene Kultur, die hier und jetzt zu verteidigen ist. //

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