Theater der Zeit

Auftritt

Berliner Ringtheater: Geisterspiele

„Ghosts of the Landwehrkanal“ von Travis Jeppesen – Regie Wang Ping-Hsiang, Bühne und Kostüm Christa Joo Hyun D’Angelo, Video und Grafikdesign Lin Yu-En

von Sophie-Margarete Schuster

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)

Assoziationen: Freie Szene Theaterkritiken Berlin Berliner Ringtheater

Tien Yi-Wei in „Ghosts of the Landwehrkanal“, in der Regie von Wang Ping-Hsiang Foto: Toni Petraschk
Tien Yi-Wei in „Ghosts of the Landwehrkanal“, in der Regie von Wang Ping-Hsiang Foto: Toni Petraschk

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„If I can't be close to you, I'll settle for the ghost of you“ - mit diesen Worten aus Justin Biebers Song „Ghost“ werden die Zuschauenden im nebligen Theaterraum des Berliner Ringtheaters in Empfang genommen; mit Videoaufnahmen von scheinbar übernatürlichen Begebenheiten wird der Saal auf die bevorstehende Geisterreise eingestimmt. Hier sei anzumerken, dass sich bei dieser Inszenierung nicht nur die Geister des Landwehrkanals auf einer Reise befinden, sondern auch das Ringtheater selbst: Nachdem das Theater 2022 seinen Standort am Ostkreuz in Berlin Friedrichshain hinter sich lassen musste, ist das Theaterkollektiv derzeit in der Alten Münze in Mitte beheimatet, bis es 2024 wieder in den Friedrichshain zurückkehren wird. Dieses Moment der Bewegung, des Flüchtigen und Veränderlichen, überträgt sich künstlerisch in das, was „Ghosts of the Landwehrkanal“ dem Publikum theatral zu vermitteln versucht. Denn: „Everything, as it comes to pass, turns out to be temporary. Even the afterlife!“, wie der Geist Rosa Luxemburgs (Moritz Sauer), gekleidet in eine pinke Lederjacke und stylische Skinny Jeans, im Verlauf des Abends noch verkünden wird. Nationen, Grenzen, Staaten: All das sind flüchtige Dinge, die uns auf dem Weg unserer eigenen Sterblichkeit in Gefangenschaft nehmen – so die Bilanz Luxemburgs.

Das Bühnenbild (Christa Joo Hyun D‘Angelo) setzt sich aus einer Sammlung kleiner und großer Topfpflanzen und Aquarien zusammen, die in der traumartigen Atmosphäre der Inszenierung als Wasserpflanzen des Landwehrkanals durchgehen. Als die Zuschauenden den Raum betreten, sitzt eines der Gespenster bereits inmitten eben jenem Topfpflanzen-Dschungel: Es ist der Geist einer Frau, die 1920 von der Brücke der Bendlerstraße sprang, um sich im Landwehrkanal das Leben zu nehmen. Doch ihr Suizid scheiterte. Die junge Frau wurde unter dem Namen „Fräulein Unbekannt“ in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, in der sie sich weigerte, ihre wahre Identität preiszugeben. Stattdessen behauptete sie, die Großherzogin Anastasia zu sein, die 1918 im Alter von 17 Jahren von den Bolschewiki ermordet wurde. Gekleidet in ein rosa 20er-Jahre-Fransenkleid, einen langen Pelzmantel und eine weiße Perücke erzählt Anastasia (Wu Po-Fu) nun von der Nacht, in der sie aus dem Kanal gezogen wurde: „This entire city is full of ghosts in case you’ve never noticed? Certain street corners you feel it more than others. Certain tunnels you just don’t go into“ – ein Sprachbild, das erneut Assoziationen mit dem gegenwärtigen Standort des Theaters an der Mühlendammschleuse der Spree weckt. Der Stücktext Travis Jeppesens vermag es darüber hinaus, im spielerischen Geistertreff fremde Welten zusammenzuführen, die in ihrer Begegnung neue Räume schaffen. Fantasien, die sich zwischen den Lebenden und den Toten theatral vernetzen und sich in traumähnlichen Situationen entladen: Das Aufeinandertreffen der drei Geister – Rosa Luxemburg, „Fräulein Unbekannt“ und einer namenlosen Arbeiterameise, die davon berichtet, wie es der Ostsee gelingt, die Arbeiterklasse mit dem flüchtigen Gefühl der Weite und Freiheit über ihr eigentliches Schicksal hinweg zu täuschen – erscheint zunächst abstrus. Und doch birgt die Begegnung unerwartete Verbindungen.

Zuerst hat sich vermutlich die eine oder der andere im Publikum gefragt: Wieso schauen wir „Fräulein Unbekannt“ plötzlich per Video dabei zu, wie sie als Cam Girl ihren pay-by-the-hour virtual lover zu verführen versucht? Doch die Arbeiterameise (Tien Yi-Wei) klärt das Ganze dann schnell auf: „Rosa, don’t you know? Sex workers are the vanguard proletariat of the twenty-first-century“. An der Schnittstelle zwischen Ausbeutung der Arbeiterklasse und Ausbeutung des weiblichen Körpers fragt sich: Ist die Tätigkeit der Sexarbeit womöglich ein Weg zur Befreiung der Frau aus ihrer Versklavung durch männliche Begierde? Gilt es hier von feministischem Empowerment oder kapitalistischer Unterdrückung zu sprechen?  Diese und ähnliche Fragen stellen sich, während „Fräulein Unbekannt“ live auf „SnackGirls.biz“ ihre Kunden anwirbt. Und so präsentiert Rosa wenig später auch einen großen Gummidildo, den sie mit voller Wucht an die Wand des Ringtheaters heftet, als den abgetrennten Phallus Orpheus‘, der auf der Suche nach dem Goldenen Vlies in die Unterwelt hinabstieg. Dass Orpheus dabei die Arbeiterklasse befreit hätte, wird als Statement zwar in den Raum gestellt, allerdings nicht weiter begründet – schade eigentlich. Was es mit Rosa Luxemburgs wiederkehrend thematisierter Blasenschwäche auf sich hat, bleibt ebenfalls ein Rätsel. Zwischen eben solchen seltsam offenstehenden Enden blitzen in der Inszenierung des taiwanesischen Theatermachers Wang Ping-Hsiang dennoch hevorhebenswerte Augenblicke eines politischen Nachdenkens auf, die sich - im Rahmen einer gespenstischen Zeitreise in das Berlin der 1920er-Jahre - fragmentarisch in ein skurriles Mosaik sexueller Fantasien einbetten. Zu sehen ist ein Experiment, das sich in seiner künstlerischen und politischen Neugierde stimmig in den eigenen Anspruch des Hauses einreiht - der da heißt: „Das Berliner Ringtheater macht Kritisch(es) Theater.“

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