Auftritt
Ruhrfestspiele Recklinghausen/THE OFFICE performing arts + film: Humor und Hoffnung in einer zerfallenden Welt
„The Great Yes, The Great No“ – Konzept und Regie William Kentridge mit Phala O. Phala und Nhlanhla Mahlangu, Musikalische Leitung Tlala Makhene, Kostümdesign Greta Goiris, Bühnenbild Sabine Theunissen
von Stefan Keim
Assoziationen: Theaterkritiken Nordrhein-Westfalen Dossier: Festivals Olaf Kröck William Kentridge Ruhrfestspiele Recklinghausen

März 1941. Ein Orangenfrachter verlässt den Hafen von Marseille und nimmt Kurs auf Martinique. An Bord sind allerdings keine Südfrüchte, sondern Geflüchtete, darunter die Schriftstellerin Anna Seghers und der Surrealist André Breton. Wie viele andere Künstlerinnen und Künstler fliehen sie aus Frankreich, das unter Leitung von Marshall Philippe Pétain mit dem Deutschen Reich und Adolf Hitler kooperiert. Die Bühne zeigt Holzdecks samt Kajütenaufbau, im Hintergrund läuft ein schwarz-weißer Animationsfilm William Kentridges, der ebenfalls ein Schiff darstellt.
„The Great Yes, The Great No“ erzählt von Menschen, die in die völlige Unsicherheit fliehen. Die Welt zerfällt, es gibt überhaupt keinen logischen Grund, Hoffnung zu haben. Aber dennoch lachen sie, tanzen sie, streiten sich und erzählen Geschichten. William Kentridge hat ein „Narrenschiff“ entworfen, locker angelehnt an eins der populärsten Bücher des Spätmittelalters, eine Gesellschaftssatire. André Breton zum Beispiel gibt es bei Kentridge gleich zweimal an Bord. Einmal als Revolutionär, einmal als Menschenhasser. Die beiden kriegen sich heftig in die Haare, und plötzlich schauen auch Stalin und Trotzki vorbei, zwei erbitterte Widersacher, die einmal das Gleiche wollten.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler halten sich Schwarzweißmasken vors Gesicht, wenn sie die historischen Rollen verkörpern. William Kentridge lässt nicht nur Persönlichkeiten auftauchen, die wirklich auf dem Schiff waren. Auch die Tänzerin Josephine Baker und Josephine Bonaparte, die Gemahlin Napoleons, begegnen sich an Bord. Hier gibt es einmal einen fliegenden Rollenwechsel, die Schauspielerinnen tauschen die Masken und schlüpfen sofort in den anderen Charakter. „The Great Yes, The Great No“ ist ein Abend voller Ideen, temporeich, vielschichtig, eine lustvolle Überforderung. Zusammenhalt bekommt er durch die Musik.
Ein siebenköpfiger Frauenchor singt tieftraurige Texte mit lebensbejahenden Rhythmen und Melodien. Die Songs erzählen davon, dass man vielleicht einzelne Menschen töten kann. Aber die Menschheit hofft, kämpft, lebt und liebt immer weiter – so aussichtslos die Lage auch scheinen mag. Ein Instrumentalquartett ergänzt den Frauenchor, es gibt auch karibische Klänge, schließlich fährt das Schiff nach Martinique. William Kentridge erzählt von verzweifelten Menschen auf der Flucht, ohne zu beschönigen. Und doch ist sein Stück ein purer ästhetischer Genuss, ein perfektes Miteinander von Musik, Schauspiel, Tanz und Film mit einem überragenden Ensemble. Gerade weil Inhalt und Form sich immer wieder reiben, entsteht ein Theaterabend, der einen noch lange beschäftigt.
Ein Generationsgenosse des 70-jährigen William Kentridge ist Christoph Marthaler. Auch von ihm gab es bei den Ruhrfestspielen eine Deutschlandpremiere. „Der Gipfel“, ein in Italien entstandenes Stück, erzählt von einer Reisegruppe, die in einer Berghütte festsitzt. Vor dem Hintergrund einer ökologischen Katastrophe entfaltet Marthaler seine hinreißend skurrile Fantasie, mit Skigymnastik in Abendgarderobe und Feuerlöschern zum Aufblasen. Große Namen mag das Publikum bei den Ruhrfestspielen, daran herrschte auch in diesem Jahr kein Mangel. Matthias Brandt in Becketts „Warten auf Godot“ vom Berliner Ensemble, Christian Friedel als etwas oberflächlicher Macbeth, die allseits gefeierte Lina Beckmann als „Laios“ – die Liste ist noch lang. Viele ausverkaufte Vorstellungen, viel Jubel – die Ruhrfestspiele sind auch in diesem Jahr ein Erfolg. In den kleineren Spielstätten gab es auch Raum für die eine oder andere Uraufführung, doch diese Seite des Spielplans blieb eher Nebensache. Intendant Olaf Kröck hat mit viel Augenmaß ein großes und diverses Publikum angezogen, das er nun wieder etwas mehr fordern könnte.
Erschienen am 10.6.2025