Theater der Zeit

Auftritt

Münchner Kammerspiele: Plüschbezug und Kunstrasen

„Drinnen“ von Matthias van den Höfel – Regie Marion Hélène Weber, Bühne Julia Bahn, Kostüme Sarah Meischein, Sounddesign und Chorgestaltung Calixto María Schmutter

von Rebecca Preuß

Assoziationen: Theaterkritiken Bayern Dossier: Neue Dramatik Matthias van den Höfel Münchner Kammerspiele

Annette Paulmann in „Drinnen“ von Matthias van den Höfel, Marion Hélène Weber an den Münchner Kammerspielen. Foto Julian Baumann
Annette Paulmann in „Drinnen“ von Matthias van den Höfel, Regie Marion Hélène Weber an den Münchner KammerspielenFoto: Julian Baumann

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Den ganzen Abend über herrscht nicht ein Mal Stille. Ein leises Rauschen durchzieht den Raum wie ein Tinnitus, wenn das übrige Ensemble schweigt, und Regina (Annette Paulmann) allein mit ihren Gedanken zurückbleibt. Schweigen spielt eine besondere Rolle in Reginas Leben. Seit 35 Jahren pflegt sie ihren behinderten Sohn David. Der ist stumm, seine Figur ohne Bühnenanweisungen geschrieben. Was David fühlt und wie er sich verhält, interpretiert, wer mit ihm interagiert. Regisseurin Marion Hélène Weber hat die Rolle nicht besetzt. Um David dreht sich der gesamte Abend, doch er selbst ist nie das Subjekt.

„Regina, achte mal auf dich“, sagen ihre Freundinnen. „Aber bitte nicht nur und bitte nicht zu viel“, hört Regina es nachhallen. Wie bereitet man der oft übersehenen Care-Arbeit von Angehörigen eine Bühne? Matthias van den Höfel hat eine Antwort auf diese Frage gefunden und die gesuchte Bühne ganz wörtlich genommen. Verdientermaßen wurde „Drinnen“ 2023 mit dem Münchner Förderpreis für junge Dramatik ausgezeichnet und nun im Werkraum der Münchner Kammerspiele uraufgeführt. 

Zwischen Liebe, Verantwortungsbewusstsein und Selbstaufopferung schwinden allmählich Reginas Kräfte. Über Jahre hinweg hat sie sich drinnen einen sicheren Raum geschaffen. Drinnen, das ist nicht allein ihre Wohnung, in der ein großer ovaler Esstisch mit lachsfarbenem Plüschbezug auf der Tischplatte steht, daran vier Stühle, darunter ein Teppich in derselben Farbe. Es sind die Routinen, die sie sich angeeignet hat, um Überraschungen zu vermeiden. Handgriffe, die sie lieber selbst übernimmt, als sie der Pflege-FSJlerin Lena (Luisa Wöllisch) zu überlassen.

Julia Bahn lässt im Bühnenbild die Grenzen zwischen drinnen und draußen verschwimmen. Von der Haustür führt eine mit Kunstrasen überzogene Rampe ins Wohnzimmer, am rechten Bühnenrand stehen Kühlschrank und Kaffeemaschine. Hin und wieder besucht Regina mit David einen Park oder ein Café. Draußen könnte so ein schöner, planbarer Ort für sie sein. „Bald Herbst, bald Winter und dann wieder Frühling und irgendwann der nächste Sommer. Ich mag das.“ Mit lauten Jugendlichen, jungen Müttern und kreischenden Babys kann sie nicht umgehen. Regina wirkt in diesen Szenen hilflos, wie gefangen in ihrem eigenen Körper. Sie ist empfindlich in der Interaktion mit Fremden, entweder bricht die Wut aus ihr heraus oder ihr bleiben die Worte im Hals stecken. Auf die Verausgabung folgt Leere. Dann sitzt sie nur so da und starrt mit David in den Himmel.

Reginas Alltag beginnt, aus den Fugen zu geraten, als ihr Partner Michael (Sebastian Brandes) ein Jobangebot in Peru erhält. Bei Davids Betreuung unterstützen sie der Pfleger Olli (Martin Weigel) und neuerdings die FSJlerin Lena. Mit einer charmanten Synergie erwecken Weigel und Wöllisch ihre Rollen zum Leben. Ihr Spiel wirkt authentisch. Lenas jugendlicher Blickwinkel und ihre bestechende Direktheit nehmen dem Abend Schwere und kosten ihn nichts an Ernsthaftigkeit – bis es zu einem Zwischenfall mit David kommt.

„David hat mir an den Arsch gefasst“, erzählt Lena. „Also nicht so aus Versehen. So richtig.“ „Kann er doch gar nicht“, meint Olli. „Passiert.“ Mit jeder Szene ergibt sich ein neues Dilemma. Die Gesamtsituation gleicht dem Puzzle, das auf dem Esszimmertisch liegt. In jeder freien Minute sucht Regina weiter nach den passenden Teilen, manchmal hilft ihr Michael dabei. Doch als sie einmal die Kraft findet, den Kühlschrank zu öffnen, offenbaren sich abertausend weitere Teile.

Feinsinnig hat Michael van den Höfel Sequenzen aus einem nicht außergewöhnlichen Leben kuratiert. Curare, lateinisch pflegen, sich kümmern. Welche Lücken beim Pflegen aufreißen und welche Lücken keine Pflege aufreißt, illustriert Marion Hélène Weber mit einem großartigen Ensemble. „Und Regina dreht sich zu David, sammelt ihren Mut, schaut ihm in die Augen.“ Wöllisch, Weigel und Brandes schließen den Abend im chorischen Wechsel. „Folgt seinem Blick, da ist nur die schäbige weiße Tapete mit ihren Flecken, ihren kleinen Löchern, ihren immer gleichen Schattenwürfen.“ Sie hat kapituliert. „Und Regina sieht nicht, was er sieht.“

Erschienen am 26.11.2024

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