Theater der Zeit

Auftritt

Bregenzer Festspiele: Ödipus’ Leben in Farben

„Œdipe“ von Edmond Fleg, teilweise nach den Tragödien „König Ödipus“ und „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles – Musikalische Leitung Hannu Lintu, Regie Andreas Kriegenburg, Bühne Harald B. Thor, Kostüme Tanja Hofmann

von Georg Rudiger

Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Musiktheater Andreas Kriegenburg Bregenzer Festspiele

Anna Danik als La Sphinge und Paul Gay als Œdipe im gleichnamigen Stück – Musikalische Leitung Hannu Lintu, Regie Andreas Kriegenburg. Foto Bregenzer Festspiele/Daniel Ammann
Anna Danik als La Sphinge und Paul Gay als Œdipe im gleichnamigen Stück – Musikalische Leitung Hannu Lintu, Regie Andreas KriegenburgFoto: Bregenzer Festspiele/Daniel Ammann

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„Je n’ai rien fait!“, singt Paul Gay als Ödipus am Ende des vierten Aktes mit viel Wärme in der Stimme – ich habe nichts getan! „Je suis innocent.“ Unschuldig, weil er, ohne es zu wissen, seinen Vater Laios getötet und mit seiner Mutter Jokaste vier Kinder gezeugt hat. In George Enescus Musikdrama „Œdipe“ ist der Königssohn, der als Findelkind bei einem anderen Königspaar aufwuchs, am Ende mit sich im Reinen. Regisseur Andreas Kriegenburg betont bei der musikalisch opulenten, szenisch eher zähen Eröffnungsproduktion der Bregenzer Festspiele das versöhnliche Ende, indem er den Protagonisten zu den strahlenden, im Blech veredelten Klängen der Wiener Symphoniker und den schwebenden Linien des Prager Philharmonischen Chors in den hellen Horizont schreiten lässt. Die kahlen Stämme des heiligen Hains werden wieder vom Schnürboden herabgelassen. Und König Theseus (Nikita Ivasechko) übergibt den Baum des Lebens an Ödipus’ Tochter Antigone (mit hellem Sopran Iris Candelaria).

George Enescus Tragédie lyrique (Libretto Edmond Fleg), mit der die neue Intendatin Lilli Paasikivi einen gelungenen Einstand feiert, präsentiert das ganze Leben von Ödipus – von der Geburt bis zum Tod. Und erweitert damit auch die beiden zugrunde liegenden Dramen „König Ödipus“ und „Ödipus auf Kolonos“ von Sophokles. Alles ist auf die Hauptfigur zugeschnitten – die vielen anderen Partien treten nur partiell in den Vordergrund. Der am Ende vom Premierenpublikum zurecht gefeierte französische Bassbariton Paul Gay lässt diesen tragischen Helden der Antike näherkommen. Seine langen Monologe sind nie hölzern, sondern mit Kantabilität und einer klaren Phrasierung verlebendigt. Er kann seine geschmeidige Stimme härten, wenn Ödipus im dritten Akt nach und nach die ganze Wahrheit erfährt. In den existenziellen Erschütterungen fehlt es ihm allerdings an Radikalität. Auch darstellerisch bleibt Gay blass.

Über 20 Jahre hat George Enescu an seiner einzigen Oper geschrieben, ehe er 1931 die Partitur fertigstellen konnte. Bis zur Uraufführung an der Pariser Opéra sollten noch fünf weitere Jahre vergehen. Die lange Entstehungszeit hört man in den unterschiedlichen musikalischen Einflüssen: von Impressionismus bis Neoklassizimus, von mit Orientalismen durchsetzten rumänischer Folklore bis zu stark dissonanten, expressionistischen Klängen, wenn das Orchester zu den bitteren Wahrheiten, die Ödipus im dritten Akt erfährt, ächzt und stöhnt. Dirigent Hannu Lintu macht bei seinem Bregenz-Debüt in diesem sperrigen, oratorisch-symphonisch gebauten Werk alles richtig. Die Wiener Symphoniker entwickeln eine plastische Lesart, die die vielen Details von Enescus raffinierter Instrumentation hörbar macht. Zu Beginn treffen dunkle Pauken auf mit Flatterzunge gespielte Flöten. Die Streicherlinien sind aufgeraut, das Orchester hat einen erdigen Klang. Im Laufe des knapp dreieinhalbstündigen Abends führt der Finne souverän diesen gewaltigen Klangkörper mit großem Sinn für Balance und Präzision. Auch spezielle Farben wie die singende Säge nach dem Tod der Sphinx oder das Altsaxophon, das Ödipus’ Erkenntnisgewinn verinnerlicht, haben genügend Raum. Der immer wieder in kleinere Ensembles aufgeteilte, klanggewaltige Prager Philharmonische Chor (Leitung Lukás Vasilek) wird ebenfalls von Lintu perfekt in Szene gesetzt. Die Verbindung zwischen Bühne und Orchestergraben ist eng. Nur die höchsten Sopranhöhen sind im Chor gelegentlich ein wenig eingetrübt.

Für jeden der vier Akte haben Regisseur Andreas Kriegenburg und sein Team (Bühne Harald B. Thor, Kostüme Tanja Hofmann) eine bestimmte Farbe gewählt. Im dramaturgisch und szenisch schwächsten, in Rot und Gelb getauchten ersten Akt (Feuer) wird das Leben gefeiert. Es passiert nicht viel, außer dass Laios (mit hellem Tenor: Michael Heim) seinen frischgeborenen Sohn der Menge präsentiert und diese in biederen Tänzen und weiten Kostümen ihre Begeisterung darüber ausdrückt. Nur die unheilvollen Prophezeiungen des blinden Sehers Teiresias (großartig: Ante Jerkunica) bringen etwas Spannung ins glücksberauschte Geschehen. Und auch der Hohepriester (mit schwarzem Bass: Nika Guliashvilli) entfaltet Präsenz. Der dreiteilige zweite Akt (Wasser) bietet mehr szenische Spannung, wenn Ödipus im Nebel an der Weggabelung seinen Vater Laios und dessen zwei Begleiter tötet und danach auf die mit Flügeln von sieben Meter Spannweite ausgestattete Sphinx (expressiv: Anna Danik) trifft. Hier sind hohen Holzwände weiß, im dritten Akt (Asche) schwarz. Überraschendes passiert wenig in Kriegenburgs Inszenierung, die nach drögem Beginn mehr in Bann ziehen kann. Marina Prudenskaya ist eine dunkel timbrierte Jokaste, Tone Kummervold eine empathische Königin Mérope. Vazgen Gazaryan (Phorbas, Der Wächter), Tuomas Pursio (Kreon) und Mihails Culpajevs (Hirte) komplettieren das gute Solistenensemble. Durch viele Tore ist Ödipus an diesem Abend geschritten. Nun muss Antigone den Weg der Wahrheit beschreiten, ohne sich von der Vergangenheit erdrücken zu lassen.

Erschienen am 18.7.2025

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