Diskurs
Les pièces echappées du feu
Das Kolloqium „Literary writing for puppets and marionettes in Western Europe“ in Montpellier
Das vom European Research Council geförderte Forschungsprojekt „PuppetPlays“, das 2019 startete und bis 2024 läuft, macht sich zur Aufgabe, das Repertoire des westeuropäischen Puppentheaters vom 17. bis 21. Jahrhundert zu erforschen. Unter der Leitung von Prof. Didier Plassard an der Université Paul Valéry Montpellier III möchte es nicht nur eine Online-Plattform mit 300 kompletten Stücktexten und ca. 2.000 Stücktiteln der weiteren Forschung zugänglich machen. Zum Projekt gehören auch zwei größere internationale Symposien, deren erstes im Oktober 2021 als Hybridformat vor Ort in Montpellier und Online stattfand und seinen Fokus auf das literarische Schreiben fürs Puppentheater legte.
von Mascha Erbelding
Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)
Assoziationen: Akteure Europa Debatte Puppen-, Figuren- & Objekttheater
Wenn Schriftsteller*innen für das Puppentheater schreiben, dann wollten sie, so ein verbreitetes Vorurteil, sich entweder vom Schauspiel abgrenzen und dächten nicht wirklich an eine Umsetzung mit Figuren. Oder ihre Texte entsprächen nicht den Anforderungen einer Dramaturgie des Puppentheaters, seien unspielbar. Und generell sei Sprache im Figurentheater zweitrangig. So fasste Didier Plassard in seiner einleitenden Keynote die Gründe zusammen, die seiner Ansicht nach dafür sorgten, dass das literarische Repertoire des Puppentheaters bisher nur selten erforscht wurde. Gleichzeitig brach er eine Lanze für die „pièces échappées du feu“, also die „Stücke, die dem Feuer entkommen sind“, wie er den Titel eines Buches1 aus dem 18. Jahrhundert zitiert, das auch Puppenspieltexte enthält. Denn obwohl nur ein Bruchteil des tatsächlich geschriebenen und gespielten Repertoires des europäischen Puppentheaters erhalten ist, entziehen sich die Stücke in ihrer Diversität einem generalisierenden Urteil. Er warb dafür, die Texte tatsächlich zu lesen und in den Kanon der Theaterliteratur zu überführen. Das Schreiben für Puppen und Menschen hatte und hat Berührungspunkte, die es zu entdecken gilt. In 34 Vorträgen, dazu Diskussionen und Präsentationen aus sieben Ländern stand nun diese Lektüre oder Re-Lektüre der Texte im Mittelpunkt.
Warum Schreiben für das Puppentheater?
Die Bandbreite der vorgestellten Autor*innen ist groß; dennoch finden sich ähnliche Motive dafür, warum sie für Puppen schrieben. Grundlegend sowohl in Frankreich als auch in England waren im 17. und 18. Jahrhundert Monopole bestimmter Schauspiel- oder Opernhäuser, also z. B. die Comédie française und Comédie italienne, die eine Blütezeit des Marionettentheaters erst möglich machten – vornehmlich mit Parodien der großen Bühnen. Mit großer Leidenschaft klärte etwa die Literaturwissenschaftlerin Françoise Rubellin im Rahmen der Tagung über gängige Vorurteile über das Théâtre de la Foire auf, dessen Publikum auch aus den höheren Gesellschaftsschichten stammte und dessen Stücke eine Lektüre verdienen.
Unter dem Stichwort Antitheater ließen sich viele der vorgestellten Stücke sammeln – etwa von José Sobral de Almada Negreiros (1893–1970), den die portugiesische Theaterwissenschaflerin Caterina Firmo vorstellte, und dessen Schreiben einmal mehr die internationale Verbundenheit der künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts beweist. Oder der spanische Bühnenbildner, Autor und Regisseur Francisco Nieva (1924–2016), dessen oft groteskes Werk zwar – mit Ausnahme eines Stückes – nicht für Puppen geschrieben wurde, aber, wie Adolfo Ayuso Roy herausarbeitete, dennoch viele Anklänge an ein nicht-menschliches Theater hatte.
In der Moderne und danach ging es den Autor*innen, die sich Puppen zuwandten, vielfach darum, sich in einer Tradition des „Volkstheaters“ zu verorten und so auch an marginalisierte Gruppen anzuknüpfen. Wie etwa bei der zeitgenössischen portugiesischen Autorin Regina Guimarães, deren dezidiert politisches Werk sich auch mit Migration und Obdachlosigkeit beschäftigt. Der 1962 in Togo geborene französische Autor Kossi Efoui, der in mehreren Vorträgen Erwähnung fand, hebt die subversive Kraft der Dinge hervor. Mit dem Théâtre Inutile in Amiens verbindet Efoui seit 2006 eine Partnerschaft, die sein Schreiben eng an die theatrale Umsetzung im Figurentheater bindet – im Gegensatz zu vielen anderen hier präsentierten Autor*innen, deren Werk nur wenig mit tatsächlicher Puppentheaterpraxis zu tun hatte.
Natürlich steht die metaphysische Seite des Puppentheaters, die Möglichkeit, die Welt der Geister, Toten und Schemen zu zeigen, bei vielen Autor*innen im Zentrum, die im Puppentheater die Inkarnation der Poesie sehen: Bei Massimo Bontempelli (1878-1960) etwa, dessen Stück „Siepe a Nordovest“ Cristina Grazioli in den Kontext seiner Zeitgenoss*innen stellte.
Welche Sprache spricht die Puppe?
Ein interessanter Aspekt des Symposiums war, dass neben der Wiederentdeckung so mancher Autor*innen auch die verschiedenen Ebenen der sprachlichen Umsetzung thematisiert wurden. Denn in den behandelten Stücken haben sich nicht nur Dialekte erhalten, die heute vielleicht schon fast verschwunden sind. Die Figuren fordern auch einen besonderen Rhythmus – wie ihn Cécile Bassuel Lobera etwa in Federico García Lorcas Werk hervorhob. Und sie fordern als „lebendige Metaphern“ auch viel Platz und Stille, um Bilder auf der Bühne wirken zu lassen. Das hoben auch die zum Symposium eingeladenen Theaterautor*innen hervor.
So war es ein Verdienst des Symposiums, den vielen historischen Perspektiven Einblicke in das zeitgenössische Schreiben für das Figurentheater gegenüberzustellen. Besonders eindrucksvoll war hier die Diskussionsrunde mit den vier Autor*innen Hervé Blutsch, Jean Cagnan, Catherine Zambon und Patrick Bonan. Aus deutscher Sicht ist es erstaunlich, dass sich tatsächlich so viele hauptberufliche Schriftsteller*innen finden lassen, die nicht aus dem Puppenspiel kommen, sondern (mit Ausnahme von Bonan) auch für das Schauspiel schreiben. Hier zeigt sich beispielhaft die Wichtigkeit der Begegnung von Schriftsteller*innen und Figurenspieler*innen, die das Centre national des écritures du spectacle La Chartreuse in Villeneuve-les-Avignon über lange Zeit ermöglichte und förderte.
Dass bei all den Vorträgen ein Großteil der vorgestellten Autor*innen männlich war, wie es der Theaterkritiker Mathieu Dochtermann am Ende des Symposiums bemängelte, ist ein trauriger Beleg dafür, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse eben auch bestimmen, welche Stücke veröffentlicht werden – und welche dann „dem Feuer entkommen“. Es ist aber zu erwarten, dass bei dem zweiten Symposium im Rahmen des Projektes PuppetPlays, bei dem es um das Schreiben und die Stücke von Puppenspieler*innen – in Gegensatz zum rein literarischen Schreiben – gehen wird, mehr weibliche Autor*innen vertreten sein werden.
Alle Vorträge online unter https://puppetplays.www.univ-montp3.fr/en. Ende 2022 erscheint ein Tagungsband.
1 Albert-Henri de Sallengre (Hg.): „Pièces echappées du feu.“ Plaisance, 1717.