Theater der Zeit

Auftritt

Essen / Gelsenkirchen: Brennpunkt Ruhrgebiet

Schauspiel Essen: „AufRuhr“ von Christine Lang, Volker Lösch und Ulf Schmidt; Musiktheater im Revier Gelsenkirchen:„Stadt der Arbeit“ von Volker Lösch und Ulf Schmidt. Regie Volker Lösch

von Sarah Heppekausen

Erschienen in: Theater der Zeit: Henry Hübchen (02/2022)

Assoziationen: Sprechtheater Musiktheater Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Schauspiel Essen Musiktheater im Revier

Gelsenkirchen hat keine Arbeit für alle. Aber ein einziger Job ist noch zu vergeben. Um den buhlen in Volker Löschs Musiktheater „Stadt der Arbeit“ die Massen in grauen Stahlkäfigen. Foto Isabel Machado Rio
Gelsenkirchen hat keine Arbeit für alle. Aber ein einziger Job ist noch zu vergeben. Um den buhlen in Volker Löschs Musiktheater „Stadt der Arbeit“ die Massen in grauen Stahlkäfigen.Foto: Isabel Machado Rio

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Ein Blick von oben, aus dem Hubschrauber, und das Urteil der Investorin ist so eindeutig wie niederschmetternd: „Sieht aus, als könne das weg“. „Das“ ist der Essener Norden, der strukturschwache, der arme Teil der „ungleichsten Stadt Deutschlands“, wie Volker Lösch sie nennt. Das Nord-Süd-Gefälle in der Ruhrgebietsstadt ist massiv – hier die Problemviertel, dort die Stadtvillen, getrennt durch die Autobahn A40, die gerne auch „Sozial-Äquator“ genannt wird.

Gelsenkirchen liegt komplett nördlich der A40. Die Stadt mit der zweitniedrigsten Beschäftigungsquote im bundesweiten Vergleich. 260.000 Einwohner:innen, davon 167.000 im erwerbsfähigen Alter. Gerade einmal die Hälfte hat einen festen Job. Jede:r Vierte bekommt Hartz IV. Passende Orte sind das für Volker Lösch, der als Regisseur stets gegenwartsbezogen arbeitet und seine Produktionen in und für eine Stadt entwickelt. Sein Antrieb ist dabei stets politisch motiviert, sein Anspruch nicht weniger als der ­Wille nach Veränderung durch Sichtbar­machung. Seine Themen diesmal: der verheerende Ausbau des Hyperkapitalismus und die Lohn­arbeit und ihr sinkender Wert. Solidarität! könnte als Aufruf über beiden stehen.

Die Investorin aus dem Hubschrauber ist Teil einer fiktiven Kriminalgeschichte, die Lösch zusammen mit Christine Lang und Ulf Schmidt für Essen unter dem Titel „AufRuhr“ geschrieben hat. Investorin, Bürgermeister und Bauunternehmerin träumen den Traum von Essens Zukunft, „Essen 5.0“ – ein Großprojekt, das soziale, sichere und barrierefreie Wohnungen anpreist, dafür allerdings den Norden räumen lassen muss. Brisante Verbindungen: Die Tochter der Bauunternehmerin aus dem reichen Süden entlarvt das Projekt als ökologische Katastrophe und postet aktivistische Videos. Und Adile, gebürtige Gelsenkirchenerin mit kurdischen Wurzeln, wohnt im Norden und putzt im Süden, und zwar das Haus der Bauunternehmerin. Lena und Adile tun sich als Widerständlerinnen ­zusammen, besetzen zusammen mit Hacker Perry und Rentner Grube (Ex-Bergarbeiter) die Häuser und den Untergrund (Grube kennt die Schächte). Der Kampf geht weit und ­weiter – Gewalt scheut keine der beiden Seiten – bis zu Bürgerkrieg und Mord: Der Polizeikommissar erschießt den Bürgermeister, die Bauunternehmerin verstößt ihre Tochter, die Widerständler rufen die Autonome Republik Ruhr aus. Was für ein Drama!

Lösch und sein Autorenteam scheuen weder das Getöse noch die Schwarz-Weiß-­Malerei. Jede Figur ein Extrem: Janina Sachau zeigt eine teuflische Investorin mit gegelten Haaren und fiesem Lachen, die auf hohen Schuhen über Leichen geht. Der Polizei­kommissar Reich(!) (Philipp Noack) lebt faschistoide Tendenzen grob und offen aus. Anna Bardavelidze beherrscht als Adile Ton und Tanzmoves der „Straße“. Löschs Theater ist kein Theater der Zwischentöne, es ist laut, provozierend, anstrengend und eben auch simplifizierend. In „AufRuhr“ geraten Story und Figuren in ihrer Vereinfachung oder besser gesagt Vergröberung aber ins Groteske, und da verpufft jede mögliche mahnende Wirkung.

Dabei kommen sie einem eigentlich ziemlich nah, die Darstellenden, zumindest räumlich. Das Publikum sitzt auf Dreh­hockern im Saal, gespielt wird längs dazwischen und auf den Seitenbühnen. Der Raum ist umgeben von Videoleinwänden, auf denen Szenen der Stadt – vom Taubenschlag über den Wahlkampf in der Fußgängerzone bis zum Steeler Wasserturm, einem zentralen Schauplatz des Kampfes der Roten Ruhr­armee 1920, gezeigt werden. Oder auch Live-Szenen und Interview-Statements junger Aktivist:innen. Da geht es um Antifaschismus, Klima, Kunst und Mitspracherecht. Die Raumbühne, die Architekt Werner Ruhnau (der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre) entworfen hatte, und die zu Wort kommenden Laien – sie sind für Lösch Ausdruck eines demokratischen Theaterverständnisses.

Etwas weiter nördlich, im Musiktheater im Revier (MiR), hat Lösch als Laien 15 Gelsenkirchener:innen auf die Bühne geholt, die – arbeitslos aus verschiedensten Gründen – das Publikum mit diesen Fakten konfrontieren; erzählend, brüllend, singend. Die werden auch hier nicht in eine bestehende Stückhandlung integriert. Mit Ulf Schmidt hat Lösch ein ­eigenes Musiktheaterstück verfasst: „Stadt der Arbeit“ heißt es ironischerweise.

Nach den Oden an die Arbeit zu ­Melodien von Wagner, Haydns Deutschlandlied und Eislers DDR-Hymne positionieren sich die Insassen des Arbeitshauses zum Morgenappell: die chronische Traumtänzerin, der ­arbeitsmarktpolitische Amokläufer, der lust­betonte Systemverweigerer, die arbeitsmarktferne Dauerkranke. Lauter biografische ­Begründungen für eine sogenannte Arbeits­losigkeit. Sie wurden in orangefarbene Anzüge und Einzelkäfige gesteckt, werden gemaß­regelt und malträtiert mit Schlägen und Elektroschocks. Als Fallmanager Petra und Gerd geben die Schauspieler:innen Gloria Iberl-Thieme und Glenn Goltz machtversessene Knüppel-Schwinger, mit Stimme und Körperhaltung immer am Anschlag, ein Prügel- wie Parodisten-Paar. Denn bei aller brachialen Direktheit fällt der Abend immer wieder ins Ironische, schwankt zwischen Wut-Gebrüll und Musical-Attitüde, wechselt von konkretem Betroffenheitsbericht zu pathetischer Nummernrevue. Da werden Steine von einem Eimer in den ­anderen gekippt (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme). Das System tritt als Handpuppe in den Dialog. Und Labora (Sopranistin Eleonore Marguerre) und Dromus (Sebastian Schiller) duellieren sich singend als Adam und Eva, als Engel und Teufel durch die (Musik)Geschichte.

Die erzählten Biografien basieren auf Interviews. Sie sind echt, was ihnen natürlich brisante Bedeutung verleiht. Die 23-jährige Rabea hat keine Ausbildung, weil sie unter Depressionen leidet. Sie will als Präparationsassistentin arbeiten, das darf sie aber nicht, weil sie als arbeitsunfähig vermerkt ist. Petra konnte als alleinerziehende Mutter ihr Jura-Studium nicht beenden und gilt jetzt ent­weder als über- oder als unterqualifiziert. Gerhard hatte 40 Arbeitsstellen, zuletzt entlassen wegen Gewerkschaftsarbeit. Die Botschaft ist klar: Sie alle wollen arbeiten, aber sie wurden abgehängt. Braucht unsere Gesellschaft die Arbeitslosen als Motivationsschub? Auch in Gelsenkirchen ruft Lösch wie gewohnt ungemütliche Wahrheiten aus. Wachrütteltheater, diesmal mit Orchester und Gesang.

Im zweiten Teil des Abends ist das Arbeitshaus geschlossen, die Käfige sind weggeräumt. Auf dem Boden hat Bühnen- und Kostümbildnerin Carola Reuther eine Zielscheibe ausgelegt. Der Mensch als Munition auf dem Arbeitsmarkt. Gelsenkirchen hat keine Arbeit für alle. Aber ein einziger Job ist noch zu vergeben. Wer sich verkaufen kann, gewinnt. Jetzt dürfen sie alle zeigen, was sie wirklich können – großartig singen (Kreativität), Rennradfahren (Durchhaltevermögen), Schuhplattlern (gelungene Integration eines aus Syrien Geflüchteten). Da gibt es reichlich Szenenapplaus im MiR.

Im Protest-Epilog wütet der Chor der Vollzeit-Ehrenamtler:innen, der Ausbildungswilligen, der Rentner:innen und Wegrationalisierten: „Der Reichtum der Zukunft sind wir. Wenn ihr uns nicht in Armut haltet.“ Lösch stellt aus – was in Gelsenkirchen unangenehm unterhaltend und wie in Essen grotesk anmutet. Aber er stellt auch klar und fordert ein – und da überzeugt er in seiner Kompromisslosigkeit. //

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