Thema
Hinterm Berg?
Das Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg-Buchholz changiert erfolgreich zwischen Tradition und Moderne
von Andreas Herrmann
Erschienen in: Theater der Zeit: Frau Kulturstaatsministerin Grütters – greifen Sie ein!? (05/2016)
Assoziationen: Eduard-von-Winterstein-Theater
Ali tut der Schwanz weh. Deshalb kann er heute Nacht nicht mit zur wilden Katharina kommen, er will nach Hause. Nur ein Tänzchen wagt er noch mit der einsamen Witwe Emmi – angestachelt von seinen drei Freunden Fuad, Ahmed und Said, die sich wie Ali von der feschen Kellnerin Barbara und Dudelmeister Horst am Elektropiano gut bedient fühlen. Diese, angelockt von der Livemusik in der schäbigen Vorstadtkneipe mit Altenburger Flaschenbier und populären Melodien, mit Tischkicker und Karaoke-Einlagen, kehrt hier erstmals auf eine kleine Cola ein. Ali, ganz Gentlemen, bezahlt und bringt die gut 20 Jahre Ältere nach Hause. Dort schwatzen sie eine halbe Nacht lang, Ali muss nicht in sein Sechsmannzimmer zurück, die große Liebe bricht sich zwischen dem Kfz-Mechaniker und der Putzfrau Bahn – und endet in schneller Heirat bzw. dem Beginn rassistischer Anfeindungen, die nun auch Emmi, deren polnischer Mann vor zehn Jahren starb, mit voller Wucht ereilen. Die Drastik der Schimpfwortwahl erreicht schnell ihren moralischen Tiefpunkt, wobei die Gürtellinie in München anno 1974 sehr, sehr tief hing, es aber bei Verbalien blieb.
Rainer Werner Fassbinders „Angst essen Seele auf“ zeigt – 1974 erst als Film, dann als Stück – das kurze Glück zwischen einem Einwanderer aus Marokko, der heute ein illegaler Wirtschaftsflüchtling wäre, und einer einsamen, fleißigen deutschen Jungoma, die nach dem Strohhalm greift und dafür alle Diskriminierung riskiert. Die Zeiten waren – kurz vor dem ersten deutschen Männer-Fußball-Sommermärchen mit eingebautem Wunder von Hamburg – recht harter Natur; denn die damalige liberalsoziale Regierung hatte nichts Besseres zu tun, als auf die Ölkrise mit einem allgemeinen Anwerbestopp von Gastarbeitern zu reagieren. Logische Folge dummer Politik: Die Wirtschaftswunder-Gastarbeiter, eigentlich nur auf Zeit bestellt, wurden zur Entscheidung genötigt, holten rasch ihre Familien nach und blieben. Auf die Welle der Einwanderung folgte die der Ausländerfeindlichkeit – und Fassbinder reagierte in seiner Art konsequent und wirkmächtig: „Alle Türken heißen Ali“ war sein Arbeitstitel; der Film mit Brigitte Mira als Emmi Kurowski begeisterte selbst in Cannes die Kritiker, auch wenn die Jury nicht mit der Palme wedelte.
Dreifacher Wellenritt
Doch was sucht dessen derbes Schwarz-Weiß-Figurendrama rund fünfzig Jahre später in Annaberg-Buchholz, der kleinsten wie höchstgelegenen Theaterstadt Sachsens, kurz vor dem Fichtelberg?
Die Frage beantwortet Regisseur Karl Georg Kayser, der hier in der vergangenen Spielzeit bereits Brechts „Mutter Courage“ inszenierte, mit einem Gegenwartsbezug, der in die 1990er Jahre führt: Für ihn sind Ali und seine Freunde bosnische Muslime, was sich doppelt anbietet: Einerseits ist die jugoslawische Zuwanderungswelle von vor zwanzig Jahren hier gegenwärtig, andererseits hat man mit Nenad Žanić einen hypersportlichen Typen bayerischer Herkunft mit kroatischen Wurzeln im Ensemble, der in seiner Vita bei Dialekten Schwäbisch, Bayerisch, Ausländerdeutsch und Südländisch angibt und zudem serbokroatisch singen kann. Seinem erst einfühlsamen, später wieder männlichen Ali schaut man gern beim absehbaren Ehescheitern zu und versteht sein Temperament und die Sehnsüchte, die ihn später nachts wieder raus in die trübe Welt treiben.
Sein Gegenüber, die naive Emmi, spielt Tamara Korber, in generell zerbrechlicher Attitüde, in der ab und an Spitzen von Courage lauern, die aber letztlich mangels Couscous-Künsten und Sexappeal der dynamischen Kellnerin Barbara von Gisa Kümmerling unterliegen muss. Kayser hat für sein Unterfangen, das er in fast kompletter Rollenzahl abspult und für das im Jahresspielzeitheft mit Edvard Munchs Bild „Der Schrei“ geworben wird, sieben Darsteller und vier Komparsen zur Verfügung, sodass die Profis in den Nebenrollen jeweils vier, allesamt reichlich triviale Typen darstellen müssen, die sofort als gutwillig oder boshaft erkennbar sind. Zeit zur Entfaltung gibt es nicht, in Erinnerung bleibt die körperliche wie sprachliche Präsenz Marvin Thiedes, vor allem als Alis Kumpan Fuad und als Vermietersohn Gruber.
Noch mehr stört aber, dass alles langatmig, vorsehbar und zahm bleibt. Der derben Wortwahl, ab und an modernisiert und – wie an Sachsens Theatern gängige Mode – mit Montagsparolen ergänzt, fehlt das körperliche Pendant.
Zum Schluss – das scheiternde Ehepärchen wagt nach zweieinhalb Stunden eine Wiederholung ihres Anfangstänzchens in der Kneipe – fällt Ali plötzlich und für alle unerwartet um. Keiner weiß warum, nicht einmal der Schwarzenberger Holzmichl könnte helfen. Das Magengeschwür und die Krankenhausszene im Original bleiben unerzählt und der Vorhang offen.
Geschichte mit mehreren Exempeln
Die Doppelstadt Annaberg-Buchholz, im Sehmatal links und rechts der Zschopau gelegen, ist eigentlich ein flotter Dreier mit Frohnau, einem Ort, den man wegen seines berühmten Hammers kennt. „Hier beruft sich jeder auf seine bergmännischen Wurzeln“, erklärt Intendant Ingolf Huhn mit Blick auf die Stadt und das Theater, welches es nur selten ins Feuilleton schafft. Doch schaut man auf dessen Bilanz, reibt man sich die Augen: Das Eduard-von-Winterstein-Theater, 1981 so nach dem ersten „Egmont“, der 123 Jahre und einen Tag vor Ali hier Premiere feierte, benannt, kennt trotz steten Bevölkerungsrückgangs keinen Mangel an Besuchern. In der Spielzeit 2013/14 erreichte es mit 278 Veranstaltungen fast 77 000 Zuschauer – also 276 im Schnitt. Das ist weit vor dem Mittelsächsischen Theater Freiberg/Döbeln, welches im gleichen Kulturraum, Erzgebirge-Mittelsachsen, liegt und mit 491 Vorstellungen und einem Schnitt von 148 Besuchern rund 4000 weniger zu bieten hat – dabei hat Freiberg die doppelte Einwohnerzahl plus vielen Studenten, auch Döbeln ist knapp größer.
Intendant Huhn, promovierter Musikwissenschaftler und Experte für Ausgrabungen wie jüngst Carl Zellers „Der Obersteiger“, zählt anders, nämlich jahresweise – vielleicht weil er just am 1. Januar des Jahrzehnts in Annaberg-Buchholz anfing: „Wir haben immer zwischen 86 000 und 96 000 Zuschauer“, sagt er energisch. Damit läge er sogar vor dem Schauspiel Leipzig, welches dafür viel öfter spielen müsse und pro Vorstellung 180 Leute erreiche.
„Das liegt vor allem an unserem ausgiebigen Sommerspielplan, rund vierzig Prozent unserer Zuschauer kommen über die Greifenstein-Festspiele“, relativiert Huhn Zahl wie Quote und ergänzt: „Das bezahlen wir mit dem Verzicht auf Sommerferien.“ Dafür gibt es ab Mitte Mai vier Wochen Urlaub, der Rest wird im September und im Februar abgegolten. So auch dieses Jahr: Bevor die Wintersteiner zum Sächsischen Theatertreffen fahren, beenden sie ihre Spielzeit mit einer langen Nacht des Gegenwartstheaters, bei der die Besucher in sieben Stunden bis zu fünf szenische Lesungen wahrnehmen können. Motto ist ein „Jedermann“-Zitat: „Viel Geld macht klug“.
Im Sommer wird das Ensemble, zu dem neben neun Schauspielern die mit dem einstigen Hausorchester fusionierte Erzgebirgische Philharmonie Aue sowie neun Solisten und 13 Choristen in der Musiksparte gehören, in drei Monaten rund 60 Vorstellungen im Naturtheater Greifensteine mit 1200 Sitzplätzen spielen. Dort gibt es in der Regel sieben Repertoirestücke und jeden Sommer drei Premieren. Dieses Jahr sind das „Die Geschichte vom Kleinen Muck“ als Kinderoper, eine „Sommer-Traum-Nacht“ als eine Art Schauspielspektakel mit Rockband und Feuerwerk sowie die Operette „Sissy“; ansonsten dominieren Hotzenplotz, Wickie und Winnetou den Spielplan. Daneben gibt es im sechsten Jahrgang einen Annaberger „Jedermann“, der diesmal auch die nahe gelegenen Schlösser Wolkenstein und Wildeck in Zschopau erobert, und im Sommer 2017 ein großes Open-Air-Festspiel unter dem Titel „Martin Luther Bergmann“.
Zum Theatertreffen nach Bautzen fährt das Theater mit einer kleinen und heiteren Produktion: Marc-Uwe Klings „Die Känguru-Chroniken“ als Viermannstück, das nach zehn umjubelten Aufführungen im Haus erfolgreich durch den Westen tourt. Annaberg-Buchholz fehlt, neben Freiberg, bislang in der Liste der Austragungsorte für die biennale sächsische Leitungsschau. Doch befragt man Intendant Huhn, wie es mit der Ausrichtung des Theatertreffen-Jubiläums in zwei Jahren aussieht, winkt er ab: „Wir sind hier für alle hinterm Berg – und haben auch nicht die Spielstättenkapazität.“ //